Mein Viertel Ein Dorf in der Großstadt: Leipzigs Kolonnadenviertel
Auf Streifzug durch den Kiez: In der Serie „Mein Viertel“ führen Leipziger durch ihren Stadtteil, zeigen Lieblingsplätze und Schandflecken. In Teil 12 geht es mit der Doktorandin Teresa Fesl durch das Kolonnadenviertel.
Zwischen Innenstadt und Johannapark gelegen, galt das Kolonnadenviertel mit seinen schicken Läden einst als attraktive Wohngegend und DDR-Vorzeigeobjekt. Nach der Wende machten die Läden dicht, die Straße ergraute. Seit einigen Jahren aber lebt das Quartier wieder auf. Zentrum des Viertels ist die 250 Meter lange Kolonnadenstraße.
Teresa Fesl sitzt auf einer Treppenstufe, nippt an ihrem Cappuccino und blinzelt in die Sonne. Neben ihr schiebt eine Frau einen Kinderwagen über den Fußweg, ein Radfahrer rauscht an ihr vorbei, ein Cabrio gleitet langsam durch die Nachbarschaft.
Geschäftiges Treiben auf der Kolonnadenstraße, der „Kolle“, wie die Bewohner sie hier nennen. Ein Quartier, das an das Leipziger Zentrum förmlich schrammt und doch so anders ist – irgendwie gemütlich.
Zum Schwatz auf die Straße
Teresa Fesl erinnert das Viertel an ihre Heimat in Bayern: „Es ist wie auf dem Dorf, ich kenne hier jeden in der Straße.“
Wenn ihr langweilig ist, geht sie einfach raus. „Da treffe ich genug Leute zum Quatschen.“ Der einzige Nachteil des kleinen Dorfes in der großen Stadt: „Man kriegt alles voneinander mit“, gibt die 34-Jährige zu. „Aber die Kolle ist sehr verschwiegen“, sagt sie und lacht.
Das Schöne ist: Die Nachbarn helfen sich gegenseitig. Egal, ob sie eine Leiter oder ein Auto braucht oder jemanden, der die Blumen gießt – Fesl weiß, bei wem sie anklopfen kann. Zum Beispiel bei Konrad, „dem Handwerker für alle Fälle“, wie sie ihn nennt.
Aus Verbindungshaus wird Theaterbühne
Aus Verbindungshaus wird Theaterbühne
Der Leipziger hat seine Werkstatt in „einer der schönsten Fassaden des Viertels“, die von Figuren, Blumenornamenten und Vögeln geziert wird. Ein Künstler aus der Nachbarschaft hat das Wandbild in den 80er Jahren gestaltet. „Es ist eine Reminiszenz an eine Studentenverbindung, die sich früher hier traf“, weiß Konrad Börner, dem die Werkstatt und das benachbarte Wohnhaus gehören.
Der gelernte Elektriker, Bauausstatter und Theaterregisseur lebt seit 2006 im Viertel. „Das Kleinstädtisch-Provinzielle ist total charmant“, findet der 45-Jährige, der in seinem Hinterhof sogar ein paar Hühner hält. Der Norma um die Ecke sei der Tante-Emma-Laden des Quartiers. Die Häuser – viele noch vor der Gründerzeit erbaut – haben eher kleine Räume und niedrige Decken. „Man wohnt hier nicht mondän wie in der Waldstraße“, sagt Börner. Gerade das gefällt ihm.
Dabei wären die beiden Häuser, die jetzt sein Eigentum sind, beinahe abgerissen worden. Zu DDR-Zeiten stellte der damalige Tischler hier Parkmöbel her, unter anderem für Garnisonen der Nationalen Volksarmee (NVA). Als das Viertel in den 80er-Jahren saniert wurde, „waren die Gebäude in einem so desolaten Zustand, dass sie abgerissen werden sollten“, so Börner. Doch dann fand sich keine andere Werkstatt, die die Produktion der NVA-Möbel übernehmen konnte. So wurde das löcherige hölzerne Mansardendach zubetoniert, die beiden Gebäude blieben erhalten.
Wer heute einen Blick in die Werkstatt wirft, sieht Chaos: Bretter und Sägespäne liegen zwischen den Maschinen, von denen der Großteil aus den 50er Jahren stammt. Börner sägt hier höchstens mal ein Brett oder verleimt einen Stuhl für seine Nachbarn, häufiger wird der Raum nicht genutzt.
Die obere Etage ist die Probebühne des „Theaters des täglichen Bedarfs“, das Börner gemeinsam mit zwei Freunden betreibt. Die Kostüme der letzten Produktion „Leonce und Lena“ hängen noch auf einem Kleiderständer neben bunten Kleidern, Hüten und einer Federboa.
Die Decke des Saales schmückt ein DDR-Leuchter aus den 50er Jahren, den Börner auf einem Flohmarkt in Dresden gekauft hat. Manchmal mieten Nachbarn den großen Raum für eine Geburtstagsparty.
Vorher: Die Colonnadenstraße – damals noch mit „C“ geschrieben – war mit Blick Richtung Osten
um 1900
teilweise von vorgründerzeitlicher Bebauung geprägt.
Nachher: Auch heute reihen sich kleine Läden entlang der 250 Meter langen Hauptstraße, der das Viertel seinen Namen verdankt.
Vor
sieben Jahren zog Teresa Fesl, selbst gelernte Tischlerin, für einen Master in
Kunstgeschichte mit ihrer Freundin nach Leipzig. Durch Zufall landeten
beide in der Kolonnadenstraße. Am Ende des stressigen Umzugstages
stolperten die Frauen in die nächste Kneipe. „Vier Stunden später saßen
wir mit 15 Leuten am Tisch und hatten super viel Spaß“, erzählt sie von
ihrem ersten Besuch im „Stoned“.
Das Wohnzimmer der Kolle
Das Wohnzimmer der Kolle
Inzwischen schreibt Fesl ihre Doktorarbeit und die Kiezkneipe nennt sie „das Wohnzimmer der Kolle“. Mit dem Chef Derek Hedges, der den Pub 2005 eröffnete, ist sie längst befreundet. Zwei Mal die Woche steht sie selbst hinterm Tresen, schenkt sechs verschiedene Sorten Fassbier aus und diverse hochwertige englische Cider.
An diesem Freitag nach der Sommerpause ist die Kneipe gut gefüllt, das Publikum bunt gemischt. „Vom Musiker aus dem Gewandhausorchester über den Jura-Studenten bis zum Harz-IV-Empfänger treffen sich hier alle“, sagt Fesl. Und: „Nach spätestens zehn Minuten wirst du angelabert, du bleibst nicht lange allein.“ Sonntagabend guckt „die Kolle“ hier zusammen „Tatort“.
Noch immer wohnt Fesl direkt neben der Kneipe, hat den „wahrscheinlich kürzesten Arbeitsweg der Welt“. Ihr Schlafzimmer geht zur Straße raus. Im Sommer kann es ganz schön laut werden, doch das störe sie nicht. Dafür wohnt sie in einem Wohlfühl-Kiez im Herzen der Stadt. Was will man mehr?
Doretheenplatz ist Eingang ins Viertel
Doretheenplatz ist Eingang ins Viertel
Eingerahmt wird das Quartier vom Dorotheenplatz, wo die Gaststätte „Apels Garten“ residiert. In dem traditionsreichen Lokal wird gutbürgerliche sächsische Küche aufgetischt.
Daneben befand sich bis vor zwei Jahren die Programm-Videothek „Memento“, die jedoch der Film-Konkurrenz aus dem Internet nicht länger standhielt. Im Kolonnadenviertel ist vieles in Bewegung: In den ehemaligen russischen Spezialitätenladen ist der Merve-Verlag eingezogen, der sich auf Philosophie und Kunstgeschichte spezialisiert.
In einem alten Fleischerladen eröffnete die
„
Haarmetzgerei“
– Frisörsalon mit dem skurrilen Name ist unter Touristen ein beliebtes Fotomotiv, weiß Fesl.
Vorher: Wie ein prächtiger, neobarocker Palast wirkte die Passage am Dorotheenplatz um 1900.
Nachher: In den 1980er-Jahren wurden die Gebäude entlang der Kolonnadenstraße teils wieder errichtet: typischer DDR-Schick und Gründerzeithäuser sind seitdem Nachbarn.
Der Späti im Kiez
Der Späti im Kiez
Vor drei Jahren bekam die Kolonnadenstraße einen eigenen „Späti“, „ein absoluter Gewinn“, wie Fesl findet. Die meiste Zeit steht Rico Döge in dem kleinen Laden. Dem 24-jährigen Studenten und Späti-Chef gefällt das Miteinander im Viertel. Zwischen den Geschäften gebe es kein Konkurrenzdenken, sagt er. „Inzwischen fühlen wir uns als Teil der Straße.“ Einzig der benachbarte asiatische Imbiss habe es durch den neuen Späti etwas schwerer, seine Getränke an den Mann zu bringen, glaubt Fesl.
Vorher: Kaum wiederzuerkennen ist der Westplatz. Hier: Blick nach Süden, um 1900. Damals kreuzten sich auf dem Platz die Straßenbahnschienen, die Häuser reihten sich dicht an dicht.
Nachher: Heute ist der Platz kaum wiederzuerkennen, die historischen Häuser sind Neubauten gewichen, alles ist luftiger gestaltet, die Straßen großzügiger angelegt.
Der Künstler auf der Kolle
Ein echter Geheimtipp auf der „Kolle“ ist der Laden von Tomo Storelli, eine Mischung aus Antiquitäten-Geschäft und Galerie. „Ich stöbere hier gern drin, weil ich immer tolle skurrile Kleinigkeiten entdecke“, sagt Fesl.
Storelli, selbst Künstler und Galerist, kam 2008 in die Kolonnadenstraße. „Diese Mischung an kreativen Positionen hatte was Interessantes“, sagt er. Das Viertel sei noch immer „angesagt“. Doch nach den Künstlern kamen die Immobilienmakler. Auch sie wollen „ein Stück vom Kuchen abhaben“. Die ersten Häuser wurden aufwendig saniert.
Viele Bewohner des Viertels betrachten diese Entwicklung mit Sorge. Storelli wünscht sich, dass „wir die Durchmischung behalten“ und nicht jedes Haus luxussaniert wird. Andernfalls wäre das Viertel bald wieder langweilig.
Vorher: Dicht war die Bebauung entlang der Rudolpstraße noch um 1940. Doch die Bombenangriffe auf Leipzig 1943 und 1944 hinterließen tiefe Spuren im Quartier.
Nachher: Nach dem Zweiten Weltkrieg ging der Aufbau des Kolonnadenviertels nur schleppend voran, erst in den 1980er-Jahren setzte ein Bauboom ein.
Platte und Gründerzeit
Platte und Gründerzeit
„Die Gentrifizierung hält ganz schleichend Einzug“, sagt auch Teresa Fesl. Immerhin wurde ihre Miete bisher nicht erhöht, die Preise pro Quadratmeter seien moderat. Die Doktorandin wohnt mit ihrer Freundin in einem Altbau mit Stuck an der Decke.
Zwischen die Gründerzeithäusern setzte man in den 80er Jahren Plattenbauten, die an die Architektur der Fassaden angepasst waren. „Die Wohnungen wurden wohl vornehmlich an linientreue DDR-Bürger vergeben“, sagt Daniel Kellermann, der auf der Kolonnadenstraße ein Café betreibt.
Vor fünf Jahren eröffnete der gebürtige Hamburger das „Tunichtgut“, das besonders mittags gut besucht ist. „Ich wollte was eigenes machen und ich mochte diese Straße“, erzählt er von den Anfängen. Als der Dönerladen auf der „Kolle“ dicht machte, ergriff er die Gelegenheit, nahm einen Kredit auf und eröffnete seinen eigenen Laden, in dem er auch selbst in der Küche steht. Heute arbeiten 14 Leute in seinem Café. Der Zuspruch sei von Anfang an gut gewesen, so der 38-Jährige. Dennoch sei das Geschäft noch immer „ein hartes Brot“, aber eines, das ihm Spaß mache.
Autofreie Zone?
Autofreie Zone?
Kellermann sagt , es gebe immer mal wieder Stress mit den alteingesessenen Bewohnern des Viertels, „die schon seit 30 Jahren in den Platten leben“. Viele haben das Quartier „über Jahrzehnte als tote Straße erlebt“.
Doch in den vergangenen zehn Jahren sei das Viertel aufgeblüht. Abends sei es manchmal wirklich „zu lange zu laut“. Aber deswegen das Ordnungsamt rufen? Das würde Kellermann nie tun. Er sitzt im Sommer ja selber gern in den Treppeneingängen und plaudert mit den Nachbarn.
Wenn er sich etwas wünschen könnte, würde er die Autos aus der „Kolle“ verbannen. Die Straße ist zwar aktuell Spielstraße, doch die meisten Autos fahren keine Schrittgeschwindigkeit. Und etwas grüner könnte die Straße sein, findet der studierte Soziologe. Bisher gebe es nur ein paar Pflanzen, die sich an den Fassaden nach oben ranken. Ein paar Bäume würden das Quartier noch schöner machen.
Vorher: Um 1910 wurden die Leipziger noch mit Pferdefuhrwerken durch die Stadt kutschiert und das oft vor beeindruckender, neobarocker Kulisse – wie dem Versicherungsgebäude der „Alten Leipziger“.
Nachher: Nach dem Krieg wurde dem Lebensversicherer von der sowjetischen Militäradministration die Weiterarbeit untersagt, man ging nach Bonn. In dem imposanten Gebäude ist heute die Hochschule für Musik und Theater untergebracht.
Text: Gina Apitz
Fotos und Videodreh: Dirk Knofe, Pro Leipzig, Gina Apitz
Zoom, Logo, Drohnenflug: Patrick Moye
Schnitt: Felix Ammenn (Leipzig Fernsehen)
Animation Viertel: Benjamin Winkler
Video-Interviews: Edgar Lopez
Konzept und Produktion: Gina Apitz
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Mein Viertel
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