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Streifzug durch das alte Nerchau

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Kurz vor seinem 90. Geburtstag fragt sich der Ur-Nerchauer Wolfgang Sieber: Weißt du noch, damals in deiner Jugend? Ein launiger Streifzug durch Nerchau, eine abenteuerliche Reise an 13 Orte der eigenen Kindheit.

von Haig Latchinian

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Andere Städte verlegten ihre Pestfriedhöfe nach jwd – janz weit draußen war in Nerchau dagegen nur die berühmt-berüchtigte Knochenbude, heute eine Fahrzeug-Meisterwerkstatt. Zwar bezeichnet sich Wolfgang Sieber selbst als alten Knochen, doch auch er ist zu jung, um den einstigen mörderischen Gestank noch erlebt zu haben:

„Es wird berichtet, dass hier Hufe, Hörner sowie Knochen aus den umliegenden Schlachthöfen zu Leim verarbeitet wurden. Die Rede war von Maden auf der Straße!“ Je nach Windrichtung müsse es bestialisch gemüffelt haben, eben wie die Pest.

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Die Keramische Kunstanstalt

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Solche Abziehbilder wurden früher in Nerchau hergestellt.
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In dem in Würde ergrauten Gebäude wurden Abziehbilder für Porzellan, Emaille, Glas – und vor allem: für die ganze Welt hergestellt. Noch zu DDR-Zeiten arbeiteten bei Technodruck in der Spitze 120 Menschen. Die Auftragsbücher waren stets voll: „Ellnor Stern, die Enkelin des Fabrikbesitzers Georg Bartsch, wohnte dort bis zuletzt. Sie hatte einen Bruder, Rolf. Mit ihm war ich zur Schule gegangen. Gegangen? Von wegen. Er wurde immer gefahren. Und zwar vom Chauffeur der Fabrikantenfamilie, vom Vater der weltberühmten Kessler-Zwillinge.“

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Solche Abziehbilder wurden früher in Nerchau hergestellt.
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Die Scharfe Ecke

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„Links war Fleischer Walter Jähnig. Sieben Fleischer hatten wir damals!“ Auf der gleichen Straßenseite, nur ein paar Schritte weiter, die etwas andere Fleischbeschau? „Kann man so sagen. Es hieß, die Bedienung im Café Bismarck hatte den dort verkehrenden Herrschaften jeden Wunsch von den Lippen abgelesen. Wenn Sie verstehen, was ich meine ...“ Aha, deshalb also scharfe Ecke.

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Schon seine Großeltern wohnten schräg gegenüber der Scharfen Ecke, in der Wurzener Straße 29. Im Laufe der Zeit wechselte die Anschrift immer wieder. Wurzener-, Hindenburg-, Stalin-, Straße der DSF, Wurzener- und nun Neichener Straße. Einer der zehn größten Bäcker der Stadt, Kurt Kühne, hatte seinen Laden vis à vis. „Direkt vor unserem Haus, die Tür war gefühlt nie abgeschlossen, heckten wir Jungs all unsere Streiche aus. Reifen treiben, Drachen bauen, Mäuse ausbuddeln.“

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Kino sei das Größte gewesen. „Die Filme wurden so oft gezeigt, dass sie völlig zerkratzt waren. Wenn du ganz vorne saßt, dachtest du, es regnet.“ Obwohl nichts zu sehen war, was kleine Jungs hätte verderben können, wachte der Ortsgewaltige streng über die Einhaltung der Altersbegrenzung. „Der Schutzmann kannte seine Pappenheimer. Und so passierte es regelmäßig, dass mitten in der Vorstellung das Licht anging und die Jüngeren rausgeschickt wurden.“

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Hans Ziegner hieß der von allen Jungs verehrte Friseur, Handballtorwart und Leichtathlet. Er machte Freiübungen mit den Kindern und erzählte von seinen Erlebnissen als Mitwirkender bei Olympia 1936 in Berlin.

Vor allem schwärmte er vom farbigen Jesse Owens, der mit acht Metern im Weitsprung siegte. „Acht Meter! Sofort besorgten wir uns ein Maßband, kreideten auf der Straße die acht Meter ab und konnten es nicht fassen. Das soll ein Mensch geschafft haben?!“ Farbige galten für mache zu der Zeit als Tiere. Die Jungs kamen ins Grübeln.

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Das Feldschlösschen

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Vorbei geht es an der Polsterei von Frank Katzer. In einem der Hinterhäuser befand sich früher die Nerchauer Zeitung, die – hört, hört – bis 1939 täglich erschien. „Nachmittags um drei musste ich das Blatt immer für meine Großmutter holen. Sie interessierte sich schon damals für die Todesanzeigen auf der letzten Seite – so wie ich heute.“

An der Ecke Muldenstraße steht eine Ruine: „Das war das Feldschlösschen, das erste Haus am Platze, sogar mit Kegelbahn. Hier verlustierten sich die ,Seidenen’, die Betuchten.“ Der Wirt hieß Hermann Kauerhof. „Weil er seine Zigarre auch kalt rauchte, nannten ihn alle nur Stumpel.“

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Die Hufschmiede

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Früher standen hier zwei Zapfsäulen von Zweiradhändler Paul Müller. Gleich gegenüber, im gut erhaltenen Anwesen mit Türmchen, residierte der Bruder von Kommerzienrat Richard Hessel. „Hermann Hessel war Privatier. Als Teilhaber verschiedener Fabriken zeigte er sich sehr spendabel, unterstützte den Bau der Schule, der Turnhalle und des Schützenhauses.“ Auf der anderen Straßenseite erinnert ein Metallring an der Fassade an Hufschmied Karl Zimmermann: „Die Pferde standen dort und schissen. Mein Großvater setzte mich auf die Pferdeäppel an. Er brauchte sie als Dünger für die Erdbeeren.“

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Kantor Franz Göpelt, Vater von Nerchaus größtem Sohn, Ekki Göpelt, trat im Saal oft mit seinen Chören auf. Ob Operette oder Blaskapelle – der Stern war Nerchaus Kulturhaus schlechthin. „Ich erinnere mich noch an ein Theaterstück mit 30 Liliputanern – oh Gott, ich weiß gar nicht, ob man das heutzutage noch sagen darf.“ 13 Lokalitäten habe Nerchau damals gehabt. „Weil die Wirte nicht allein von den Stammtischen leben konnten, trafen sich immer ein bis zwei Vereine in den Kneipen.“

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So hypermodern heute das gläserne Bürgerzentrum scheinen mag, so progressiv war 1929/30 die Bauweise der Sparkasse, noch dazu in solch einem Nest wie Nerchau! Baurat Hugo Koch projektierte das Geldinstitut nicht nur – er überwachte auch den Baufortschritt: „Jeden Tag erschien er auf der Baustelle, und zwar nie zur gleichen Zeit, sondern immer dann, wenn keiner mit ihm rechnete.“ Unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg diente der Bau den Sowjets als Kommandantur: „Plakate mit Stalin, rote Sterne, dazu Triumpfbögen über der Straße.“

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Etwa auf Höhe Gänsemarkt erinnert manche Lücke an den Fliegerangriff von 1943: „Die Einschläge waren heftig.“ Nie wieder Krieg, sagt Wolfgang Sieber. Viele, zu viele Nerchauer seien damals nicht heimgekehrt. Stabbrandbomben habe er aufgelesen, sagt er und führt auf den Markt, wo es jede Menge Gasthäuser gab: Zur Post, Deutsches Haus und – das Café von Martin Bretschneider: „Ja, das war ein Typ. Mit krummen Beinen, piepsiger Stimme und klapprigem Handwagen fuhr er Eis breit.“

Unnachahmlich auch Apotheker Helmut Schütz: „Der machte die Tinkturen noch selbst, kannte jeden und züchtete Thüringer Nackthälse.“

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Eisenwarenhändler Theodor Lange hatte in seinem Geschäft am Saumarkt alles, was das Herz der Nerchauer begehrte. Zu Kultstatus brachte es jedoch erst sein Nachfolger: Alfred Nigrin. „Bei dem bekamst du alles, von der Schraube über den Besen bis zur Leiter.“ Das Motto im Haus der 1000 kleinen Dinge: Sie müssen kaufen, was ich habe, und nicht, was sie brauchen! Schon machten sich die Nerchauer ihren Reim drauf: Nigrin an der Ecke, der handelt mit jedem Drecke.

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Die öffentliche Pumpe

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Dreck? In Nerchau war nur die Luft schmutzig. Und höchstens noch die Mulde. Aber das auch erst zu DDR-Zeiten. Ansonsten war man hier schon immer reinlich: Eine originale Pumpe steht noch zwischen Markt und Saumarkt. „Bis 1910 hatten wir exakt 109 Brunnen.“ Deren Güte wurde überwacht. So ließ man früher einen Frosch nach unten. Überlebte er, war das Wasser gut, starb er, war die Qualität bedenklich.

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