Mein Viertel Neue Gründerzeit in Plagwitz
Auf Streifzug durch den Kiez: In der Serie „Mein Viertel“ führen Leipziger durch ihren Stadtteil, zeigen Lieblingsplätze und Schandflecken. In Teil 11 spaziert der Sozialpädagoge Markus Böhme durch Plagwitz.
Ein Streifzug durch Plagwitz
Pappelflusen treiben im Wind, als wir den Vorgarten der Kunstgalerie OAP in der Klingenstraße betreten. Nach dem Lärm auf der Zschocherschen Straße, wo Discounter, Baumärkte, Straßenbahnen und der Feierabendverkehr das Bild prägen, ist das hier ein kleines Idyll.
Hinter dem Kürzel – den Initialen des Vormieters – verbirgt sich eine offene Galerie, die auch als Konzert- und Lesebühne dient. Das heißt, sie versteckt sich darüber: Eine Holztreppe führt nach oben in einen kleinen Raum, für den das Wort Sammelsurium geschaffen wurde.
In Plagwitz hängen geblieben
Markus Böhme, „der Markus“ wie er hier heißt, gehört mit seiner Lesebühne zum Inventar. Seit er seine Kneipe Helheim 2016 in der Weißenfelser Straße schließen musste, findet sie hier statt.
Unentdecktes Land
Unentdecktes Land
Seit 1996 lebt der 41-Jährige in Leipzig, seit 18 Jahren im Viertel. Er hat es wachsen sehen. An diesem Nachmittag führt er uns durch sein Plagwitz. Böhme kam durch das Studium hierher. „Und dann war es Zufall: Ich bin hier hängen geblieben, habe einen Laden aufgemacht“, erzählt er.
„Damals war hier echt noch gar nichts. Auf der Karl-Heine-Straße gab es das Joseph Pub und die Schaubühne Lindenfels und sonst nichts.“ Plagwitz war – anders als die Südvorstadt – noch unentdecktes Land: „Es war ein Geheimtipp, wo man etwas machen konnte. Dadurch ist Plagwitz zu diesem hippen Stadtteil geworden“, sagt er. „Viele Alternative haben sich hier gesammelt, die nicht so überpolitisiert waren, sondern einfach etwas machen wollten." Das präge auch heute das Viertel noch ein bisschen: "Es gibt nicht die ideologischen Diskussionen wie in Connewitz", sagt er.
Markus Böhme lebt seit dem Jahr 2000 in Plagwitz.
Wie kam er her und was gefällt ihm am Viertel?
Markus Böhme über die Entwicklung von Plagwitz
Was hat sich verändert und was vermisst er?
Es riecht nach Gentrifizierung
Es riecht nach Gentrifizierung
Die Mieten ziehen auch hier an. Die Dichte an kleinen Läden und Kleingewerbe nimmt ab. „Vorn in Plagwitz bin ich gar nicht mehr so oft, das ist mir echt zu aufregend“, sagt Markus Böhme mit Blick auf die Karl-Heine-Straße, die das Viertel von Lindenau trennt. Gleichzeitig beobachtet er das geschäftige Baugeschehen auf der Zschocherschen Straße, Läden, die auf- und wieder zumachen.
Gentrifizierung ist das Wort, das in der Luft liegt. Böhme kennt die Auswirkungen von Veränderung und Verdrängung: Nachdem sein Vermieter wechselte, bekam er die Kündigung für seine Metalkneipe. „Wir haben eine Weile noch ein neues Objekt gesucht, aber keins gefunden“, sagt er. „Es ist enger geworden und aufgeräumter, viele Brachflächen wurden angefasst, mit dem Ergebnis, dass jetzt hier überall Zäune stehen. Viele Gebäude, die einsturzgefährdet waren, sind das jetzt nicht mehr. Sie werden kommerziell genutzt.“
Aus Teilen des alten Plagwitzer Güterbahnhofs wurden Wohnungen. Zugezogene Familien bevölkern Spielplätze inmitten der einstigen Industriebrachen. Daneben gibt es aber auch noch alternative Wohnprojekte, Gemeinschaftsgärten, den Bürgerbahnhof oder die mit ihren Graffiti herausstechende Gießerstraße.
Nächster Stopp: Karl-Heine-Kanal
Nächster Stopp: Karl-Heine-Kanal
„Das waren früher alles Kleinfabriken“, erklärt Böhme. Die Gleise, die heute ins Nichts führen, kamen direkt vom Bahnhof und die Wohnhäuser standen nebenan.
Etwa das Stelzenhaus, heute eine Gaststsätte, die wir streifen. „Das war früher ein Walzwerk. Es steht am Rande des Kanals, weil der Platz zu eng wurde. Die wussten nicht mehr wohin“, erklärt Böhme. Aus den Bahngleisen am Kanal sind heute Stege und Geländer geworden.
Damals staunte der Schriftsteller Friedrich Hofmann bei der Kanaleröffnung am 25. Juni 1864 über Dampfschiffe, die scheinbar durch die Wiesen kreuzten und sah mit dem neuen Plagwitzer Kanal Leipzig sich gar zur „großen Seestadt“ aufschwingen.
Heute legt das Ausflugsschiff MS Weltfrieden von hier ab. Es ist ein Ort zum Luftholen. „Ich finde diese Weiden hier herrlich. Das ist das Schöne an Leipzig, dass es eine unglaublich grüne Stadt ist.“
Pionier der Gründerzeit
Pionier der Gründerzeit
Der Aufstieg der ehemaligen Gemeinde Plagwitz ist auch heute noch mit einem Namen verbunden: Ein Denkmal zeigt Dr. Carl Heine (1819–1888) auf eine Spitzhacke gestützt mit Schienen zu seinen Füßen.
Der Kanal, der einst die Elster mit der Saale verbinden sollte, um der „Seestadt Leipzig“ das Wasser als Transportweg zu erschließen, trägt heute seinen Namen genau wie eine der Hauptstraßen: 1854 begann der Leipziger Rechtsanwalt, hier Land aufzukaufen, um Industrie anzusiedeln. Ein westlich gelegenes Industriegebiet entstand, das ans Straßenbahn- und Eisenbahnnetz angeschlossen wurde. Der erste europäische Industriebahnhof entstand mit Plagwitz-Lindenau.
In Plagwitz gab es 1888 über 105 Fabriken. Während der Industrialisierung und danach war Plagwitz ein Zentrum der Textilindustrie. Die Baumwollspinnerei, 1884 gegründet, zählte einst zu den größten in Europa.
Es geht zurück auf die Zschochersche Straße, wir biegen in die Erich-Zeigner-Allee ein. Dort liegt die ehemalige Kammgarnspinnerei, teilweise eine Industrieruine aus roten Backsteinen, zu der auch noch intakte Gebäude gehören. „Dort sind Tausende von Vereinen ansässig“, sagt Markus Böhme und übertreibt damit ein wenig.
Zwischenstopp beim ersten deutschen gemeinnützigen Poledance-Verein Lola Leipzig. Seinen Namen bekam er, weil sich die Mitglieder ursprünglich in der Lola Bar in der Gießerstraße trafen. Doch 2015 musste die Kneipe schließen. „Wir standen vor der Herausforderung, weiter machen zu wollen“, sagt Poledancerin Hayde Schmidt (30).
Schließlich mieteten sich die Mitglieder in die Kammgarnspinnerei ein.
Selbstbewusstsein an der Stange
15 Frauen und ein Mann trainieren hier für Auftritte, üben Choreographien.
„Als wir vor drei Jahren einen Raum suchten, habe ich mich schon ein bisschen gedrückt zu sagen, was für ein Sportverein es ist“, sagt Schmidt. Einige potenzielle Vermieter fingen an zu grinsen, als sie davon erzählte. Andere wollten sie zum Geburtstag buchen. Unter „Poledance“ versteht so mancher eine anrüchige Sportart.
Dabei sei es ein Tanz, der zwar Spaß mache, aber auch viel körperliche Fitness erfordere. Der Tänzer stemmt die ganze Zeit über das eigene Körpergewicht, erklärt Schmidt. Arme und Beine seien permanent in Körperspannung. Blaue Flecken bleiben nicht aus.
Die Mitglieder entscheiden selbst, wie viel nackte Haut sie zeigen. Schmidt ist überzeugt: Poledance steigert das Selbstwertgefühl: „Bei vielen Mädels habe ich eine Veränderung beobachtet“, sagt sie. „Die sind am Anfang erst schüchtern hier reingekommen. Nach ein paar Monaten wirkten sie fünf Zentimeter größer.“
Während Hayde Schmidt ihren Verein vorstellt, trainieren Eva Niedziela und Christiane Riedel an der Pole-Stange.
Ein Fest für die Kammgarnspinnerei
Ein Fest für die Kammgarnspinnerei
Das nächste Mal tritt der Poledance-Verein beim zweiten Kammgarnspinnereifest am 15. September auf. „Das erste habe ich im letzten Jahr aus dem Boden gestampft. Es lief wunderbar. Wir hatten zwischen 800 und 900 Besucher“, so Schmidt. Viele Gäste wollten gern mehr über die Geschichte der Kammgarnspinnerei erfahren. „Ich versuche gerade, die Geschichte zusammenzutragen“, verrät sie. Aushänge, der Blick in Stadtarchive und Zeitzeugen sollen dabei helfen.
Auch Böhme, der der Gastronomie den Rücken gekehrt hat und jetzt als Sozialpädagoge arbeitet, wird beim Kammgartenspinnereifest mit seiner Lesebühne vertreten sein. Daneben stellen sich die Vereine, Künstler und Gewerbetreibenden auf dem Gelände der Spinnerei vor. Sie zeigen, wie die Industriekomplexe nach dem Niedergang der DDR neu genutzt werden.
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