Willkommen in Püchau - Sachsens ältestem Dorf
Püchau gilt als der erste urkundlich erwähnte Ort Sachsens. Auf dem befestigten Bergsporn an der Mulde fand der verwundete König Heinrich I. vor weit über 1000 Jahren Zuflucht. Im Laufe der Zeit ist an gleicher Stelle ein Märchenschloss erwachsen.
Für neues Leben hinter alten Mauern sorgen Benita und Lothar Goldhahn. Seit inzwischen 20 Jahren.
von Haig Latchinian
Die Ossis im Schloss Püchau
Die Ossis im Schloss Püchau
Er war der erste private Gaststätteninhaber der DDR: 1986 eröffnete Lothar Goldhahn in dem von ihm selbst restaurierten Gohliser Zehn-Familien-Haus die legendäre Gosenschenke. Zuvor hatte er die obergärige Biersorte für Leipzig neu entdeckt. Goldhahns Lokal war von Anfang an eine Institution: Dort hing das vermutlich erste Gorbatschow-Poster im Osten; dort wurde inoffiziell der Freistaat Sachsen ausgerufen; dort bestellte Wladimir Putin jede Woche sein Sauerfleisch mit Bratkartoffeln und den Wodka sto Gramm.
Towarischtsch, mittrinken. Goldhahn, heute 73, klingt der Satz noch in den Ohren: „Ja, Putin war ein guter Freund.“ Entsprechend in Ehren hält der kultige Lebemann die russischen Neonröhren mit Trafo, die im Ballsaal der Grafen von Hohenthal seit 1945 nie den Geist aufgegeben hätten. „Es war ja so: Als die Russen nach Kriegsende Schloss Püchau erreichten, ballerten sie prophylaktisch die Kronleuchter von der Decke. Weil aber die Kommandantur im Dunkeln nicht funktionierte, musste Licht eigener Bauart ran.“
Mit seiner um einiges jüngeren Frau Benita, einer erfolgreichen Immobilienmaklerin, feierte er kürzlich runden Geburtstag: Seit nunmehr 20 Jahren gehört ihnen, den bekennenden Ossis, Schloss Püchau. Mit viel Liebe und eigenhändig (!) versetzten sie das zwischenzeitlich verwilderte Haus in jenen Zustand, den sie als charmant-marode bezeichnen. Jeder Stein, jeder Ziegel, jeder Balken werde geschützt. Das „Lackieren“, wie es auf manchem Staatsschloss praktiziert werde, lehnen die kunstsinnigen Eheleute ab. Es handele sich schließlich nicht um irgend einen Ort.
Gotik, Renaissance oder Barock
Gotik, Renaissance oder Barock
König Heinrich I., wegen seiner Liebe zu den Falken auch Heinrich der Vogler genannt, lieferte sich vor über 1000 Jahren heftige Kämpfe mit den bis an die Mulde vorrückenden Ungarn. In einer der vielen Schlachten wurde er verwundet und fand Zuflucht auf dem befestigten Bergsporn des heutigen Ortes Püchau. In seiner Chronik dokumentierte Thietmar von Merseburg die Ereignisse, die sich auf das Jahr 924 beziehen. Damit gilt Püchau nachweislich als ältester erwähnter Ort Sachsens.
Der gesund gepflegte König revanchierte sich und stattete Püchau mit allerlei Privilegien aus. Und er wies die umliegenden Siedler an, die strategisch wichtigen Anhöhen entlang der Mulde zu Fluchtburgen auszubauen. Ob Romanik, Gotik, Renaissance oder Barock – im Laufe der Jahrhunderte hinterließen viele Baumeister ihre Spuren. Zwischen 1806 und 1945 residierten die Grafen von Hohenthal in Püchau. Ihr Tudorstil erinnert beinahe an Paläste englischer Monarchen. Türme, Zinne und Balkone – dazu der märchenhafte Park: Schloss Püchau ist offen. Für alle.
In der Kulturbastion gibt es Führungen und Lesungen, viel Raum und noch mehr Traum. Nicht von ungefähr diente das herrschaftliche Anwesen als Kulisse für mehr als 20 Filme, darunter den Tatort „Der Fluch des Bernsteinzimmers“ mit Peter Sodann als Kommissar Ehrlicher. Die Goldhahns lesen im Gemäuer wie andere im Geschichtsbuch: 1912 wütete ein Wirbelsturm in Püchau und deckte das Dach des Schlosses ab. Daraufhin stattete der sächsische König Friedrich August III. dem Haus einen Blitzbesuch ab. Er unterstützte den Wiederaufbau mit Geld und 85 Strafgefangenen.
Auf den Hut eines der Gefangenen stieß Lothar Goldhahn in einem stillgelegten Kaminzug. „Hinters Schweißband war eine Zeitung gerollt“, verrät der gelernte Karosseriebauer und studierte Lebenskünstler. Er weiß: Zeitungen wurden damals noch gesammelt. So auch im Hause derer von Hohenthal. „Einer der Gefangenen muss sich ein Exemplar stibitzt haben, nicht, um darin zu lesen, sondern den Sitz seines Hutes zu verbessern.“
Lothar Goldhahns Augen funkeln, wie früher, als er mit „Lenin“ in der Gosenschenke aus Gaggsch den Freistaat Sachsen ausgerufen hatte: „Wissen Sie, was das für eine Zeitung war? Der Vorwärts. Das Zentralorgan der Sozialdemokratie! Die von Hohenthals waren eben fortschrittlich.“
Es heißt, Heinrich I. sei damals das schwere Sauerteigbrot nicht bekommen. Daraufhin schwenkten die findigen Püchauer auf Dinkel um. Und siehe da. Der verwundete König war recht schnell wieder gesund und munter. Das Heinrichbrot wurde zum Renner.
Nach originalen Rezepten wollen die Goldhahns den Gesundmacher schon bald im Marstall backen lassen: „Uns schwebt eine Brot- und Brötchenmanufaktur vor. Dafür suchen wir jetzt einen Betreiber.“ Brote und vielleicht sogar Gose.
Lothar Goldhahn hat wieder etwas mehr Zeit für Visionen: „Unser Sohn Alfred verstärkt uns ab sofort als Junior-Schlossherr“, kündigt Goldhahn senior an: „Das ist genau der Alfred, den meine Frau damals noch als Jüngelchen auf dem Arm hatte, als wir Schloss Püchau besuchten und es Liebe auf den ersten Blick war.“
Festakt auf Schloss Püchau
Im Juni wurde auf Schloss Püchau 20 Jahre Goldhahns gefeiert.
Püchauer jammern nicht – Püchauer packen an
Püchauer jammern nicht – Püchauer packen an
Ob einsturzgefährdete älteste Backsteinbrücke Sachsens, dicht gemachte Straßen oder geschlossene Geschäfte – der Püchauer jammert nicht. Ihn haut nichts so schnell um. Er ist hart im Nehmen.
Bestes Beispiel Siegfried Müller, alteingesessener Püchauer. Der heute 76-Jährige hatte sogar schon sein eigenes Herz schlagen sehen: In den 1960er-Jahren arbeitete er im Baustoffwerk. Bei einem Arbeitsunfall büßte er an der großen Bandanlage seinen linken Arm ein. Trotz klaffender Wunde und ungewohnt tiefer Einblicke in die Herzgegend geriet der Mann nicht in Panik, schaltete die Maschinen noch geordnet ab und meldete sich vorschriftsmäßig beim Pförtner.
Nach fünf Wochen stand er wieder auf der Matte und wechselte ins Betriebslabor. Und er schrieb für sich die Chronik des Ortes – er hatte schließlich weder Kopf noch rechte Hand verloren.
Über Generationen gestählt
Über Generationen gestählt
Es müssen die Kämpfe am Grenzfluss Mulde gewesen sein, die die Püchauer über Generationen hinweg gestählt haben: „Ich bin ein Polterich! Wenn ich brülle, hört man mich bis Canitz“, sagt Hansi Berger. „Hansi? Das verbitte ich mir. Ich heiße Kurt Hans-Joachim, darauf lege ich Wert.“
Sein lautes Organ half bei der Flut 2002 sogar Menschenleben retten. Ein junger Mann, der versucht hatte, seinen Hund zu retten, trieb durchs Unterdorf. Aus der Ferne gab ihm Berger lautstark Anweisungen. Offenbar ist es der Saft gesunder Äpfel, mit dem der 73-Jährige seine Stimmbänder ölt. Die Früchte erntet der Naturbursche in seinem eigenen Garten.
Dort steht auch ein alter Grabstein, der an einen 28-Jährigen erinnert, der 1848 in der Pferdeschwemme ertrank. Graf Hohenthal soll den Stein gestiftet haben. „Ich habe einen Nachfahren ausfindig gemacht. Der hat hier gestanden. Ihm kamen die Tränen.“ Berger erzählt und erzählt. Von einem Onkel, der 1925 nach Jerusalem gepilgert sei. Und von schokoladenfarbenen Altvorderen, die es in Püchau gegeben habe. „Wir waren schon immer ein buntes Völkchen. Im Sommer sind selbst meine Handrücken tiefbraun, während die Handflächen weiß bleiben.“
Schwester aus Leidenschaft
Schwester aus Leidenschaft
Eda Wagner spricht das breiteste Sächsisch im Ort. Dabei ist sie keine Frau großer Worte, vor allem eine Frau der Tat. Zweimal die Woche fährt die 80-Jährige noch immer mit ihrem Auto rüber nach Wurzen, um im Pflegeheim zu helfen. Sie ist Schwester aus Leidenschaft.
Das Püchauer Schloss, zu DDR-Zeiten ein Altersheim, war ihr Lebenswerk. Bis zu 210 Bewohner wurden dort in Spitzenzeiten betreut. Es war nicht leicht, die hochbetagten Leutchen auf einem Stuhl die Treppen hinunter zu buckeln: „Eine Schwester packte links an, die andere rechts und die dritte hielt von hinten, damit der Bewohner nicht vorn überkippte.“
Im Herbst wurden Kartoffeln angeliefert. Dann musste das Personal 800 Zentner in den Keller schleppen. Wie das die Frauen geschafft hätten: „Wir trugen es mit Humor “, lacht Eda. Nachts scheuerten die Schwestern die Treppen, damit die Heimbewohner tagsüber nicht ausrutschten. Niemand habe auf die Uhr geschaut. In ihrer Mittagspause lief Eda Wagner oft zum Bäcker und brachte Eierschecke. „Die Heimbewohner teilten den Kuchen gerecht auf. Wir waren eine große Familie.
Nach der Wende war Schluss. Das tat weh. Die Alten wollten nicht weg, bettelten noch lange: ,Ach, nehmen Sie mich wieder mit nach Püchau’.“
Püchau ist längst Heimat auch für jüngere Zugezogene. Seit fast zehn Jahren lebt hier Michael Drevenstedt. Der MDR-Sportreporter findet im Schlosspark mit seinen romantischen Sichtachsen jene Ruhe, die er nach der hektischen Großstadt braucht. Bei einsamen Streifzügen mit seinem Hund tankt er Kräfte für den anstehenden Weltcup-Winter der Nordischen Kombination. Österreich, Finnland oder Frankreich – die kommenden Monate sind für den 56-Jährigen mit Reisestress verbunden. Die Hühner vom Tischler kennt er persönlich – er schätzt ihre Eier zum Frühstück.
Er bedauert, dass der Bäcker zugemacht hat: „Seine Ost-Brötchen waren ungeschlagen!“ Drevenstedt mag den morbiden Charme, den Sachsens ältestes Dorf verströmt. Im Sommer lud er Nachbarn zu sich aufs Grundstück ein.
Bis zu 50 Mann. „Ich mache ja auch Musik. Das neue Programm kam gut an. Es ist ein Mix aus Songs und Geschichten.“ Geschichten kann er erzählen, der Fernsehmann, der sie alle interviewt hat – von Lindenberg bis Grönemeyer.
Vor über 20 Jahren kam Holger Beyer nach Püchau. Er schenkte Sachsens
ältestem Dorf ein neues Haus. Es steht direkt am Teich, der einst zum
Tiergarten der Grafen von Hohenthal gehörte. Der Wintergarten ist ein
Hingucker. Noch schöner ist nur der Ausguck. Der 59-jährige genießt den
spektakulären Blick auf Kirche, Teich und Forstmeisterhaus.
Da
oben im Forstmeisterhaus sei er geboren worden, sagt der gleichaltrige
Ekkehard Hennig. Er wohnte dort mit Mutter, Vater und zwei Geschwistern
zur Miete. Inzwischen ist er von den schwindelerregenden Höhen Püchaus
hinunter ins Unterdorf gezogen. Dort gilt sein Grundstück längst als
Geheimtipp für Ausflügler. In der schönen Jahreszeit lässt der
Fahrdienstleiter vom Engelsdorfer Stellwerk dort seine Gartenbahn
kreisen. Zwei Lokomotiven, fünf Waggons, unzählige strahlende
Kinderaugen.