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Wendegeschichten: Das Glasseidenwerk und die Treuhand

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Viel hat sich seit der Wende vor 30 Jahren verändert. Die Redaktion der OAZ hat das Jubiläum zum Anlass genommen, noch einmal zu den Zeitungen von damals zu greifen und zu fragen: Was ist aus den Menschen und Geschichten geworden? Wie haben sich Schauplätze in der Stadt und im Umland verändert? Und wie blicken die Oschatzer heute auf das Jahr 1989 und die folgenden Jahrzehnte zurück?

Für den fünften Teil unserer Multimedia-Reportage zum Herbst ’89 trafen wir uns mit Wilfried Queißer. Seit 1985 lenkte er als Betriebsdirektor im Oschatzer Glasseidenwerk die Geschicke. Für uns erinnert er sich an einen Besuch in Berlin, der letztlich über den weiteren Bestand des Werks entschied.

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Die Wende habe ihn total überrascht, sagt Wilfried Queißer heute, als wir uns in einem Oschatzer Café treffen. Einsteigen möchte er aber mit einer anderen Anekdote, die er mit der Wende und der Zeit danach verbindet: „Und was sich unter dem Regime der Treuhandanstalt in Berlin abgespielt hat“, deutet der 79-Jährige an. „Das wird Hunderten DDR-Firmen, vielleicht sogar in vierstelliger Zahl so ergangen sein, wie ich es für die Glasseide Oschatz erlebt habe.“ Davon sei kein Wort übertrieben, betont er.

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Wilfried Queißer, heute fast 80 Jahre alt, war seit 1985 Betriebsdirektor im Oschatzer Glasseidenwerk. Es müsse ein Dienstag gewesen sein, weil er montags noch unterwegs war. „Es war im April 1992, ich war irgendwie bei Kunden gewesen, da komme ich zurück in den Betrieb und die damalige Buchhalterin kam zu mir und sagte: ‚Hör mal, irgendwas ist hier merkwürdig.‘“

Mit diesen Worten überreichte sie ihm einen Brief von der Treuhand. Darin stand etwas von Abwicklung und dass sie dafür alles dafür vorbereiten sollten, weil am Sonnabend eine große Gruppe kommen wolle. „Alle unsere Unterlagen, unsere letzten Geschäftsberichte, über die aktuelle Situation, was an Produktion lief, die Zahl der Beschäftigten – eben alles“, erinnert er sich. „Riesenfledermausohren“ habe er da bekommen: Abwicklung? Das könne doch nicht sein! Es war nur noch ganz wenig Zeit. Er rief seinen Betreuer bei der Treuhand an, aber der konnte damit auch nichts anfangen.

„Damals war die Treuhandanstalt noch am Alexanderplatz in Berlin. Weil ich von dort nicht genügend Informationen bekommen habe, habe ich mich ins Auto gesetzt und bin dort vorstellig im Bereich Abwicklung geworden. Ohne angemeldet zu sein“, erzählt Queißer. „Und zwar bei einem Herrn Tränkner, das war ein Oberbayer.“ Dessen Sekretärin bestätigte, was er schon wusste, er sei nicht angemeldet: „Herr Queißer, das geht so nicht. Aber ich versuch‘s mal, ich geh‘ mal rein.“

Es dauerte gar nicht lang, bis sie zurück kam: „Sie haben Glück.“ Er durfte rein, die ganzen die sogenannte Abwicklung betreffenden Unterlagen unter dem Arm. „Er war sehr aufmerksam. Ich habe ihm alles erläutert, wie es ist.“ Das Glasseidenwerk war finanziell gut ausgestattet, weil es bereits vor der Wende eine starke Exportrate ins nicht-sozialistische Ausland hatte. „Durch die NSW-Exporte, Exporte in das nicht-sozialistisches Wirtschaftsgebiet, also in den Westen waren wir geldseitig so gut abgefedert, wie es vermutlich nicht so vielen DDR-Betrieben damals zur Wende ging. Wir hatten dadurch überhaupt keine Probleme“, beschreibt er.

Nachdem er dies geschildert hatte, fing Tränkner an zu telefonieren: „Ich habe dabei gesessen. Ich weiß nicht, mit wem er gesprochen hat, aber er hat bestimmt 20 Minuten telefoniert“, erinnert sich Queißer weiter. „Dann lehnt er sich zurück, knallt das Telefon drauf, und fängt laut an zu lachen: ‚Ja mei, Sie sind in die falsche Schublade gekommen!‘“, imitiert der verblüffte Queißer seinen damaligen Gesprächspartner.

Er könne nur mutmaßen, wer damals gute Kontakte zur Treuhand hatte und versuchte, einen ungeliebten Konkurrenten aus dem Osten platt zu machen, erzählt er: „Das ist wahrscheinlich einer Unzahl von Betrieben so ergangen. Glück muss man haben im Leben, für unseren Betrieb, für meine Mannschaft, hatte ich das.“ Anschließend sei er nach Hause gefahren. „Mit der Hauptbuchhalterin und allen, die involviert waren, haben wir dann eine richtige Fete gemacht und uns gefreut.“

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Wilfried Queißer (79) erinnert sich in einem Oschatzer Café, wie ein Besuch in Berlin das Glasseidenwerk vor der Abwicklung rettete.

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Wilfried Queißer hatte die Stelle 1985 angenommen, als sein Kombinat, für das er in Kemmlitz Technischer Leiter für Rohstoffe gewesen war, mit der Glas- und Keramikherstellung zusammengelegt wurde. Einen Tag hatte er Zeit, sich zu entscheiden: Oschatz lief nicht, es gab Führungsschwächen, Disziplinlosigkeiten und Alkoholmissbrauch im Glasschmelzwannenbereich. Als Direktor habe er durchgreifen müssen, was seinem Vorgänger nicht gelungen war.

Nichtsdestotrotz musste auch sein Betrieb nach der Wende schrumpfen, Personal wurde abgebaut, neue Vertriebswege geknüpft – und es wurde investiert: „Wir hatten fünf kleine Glasschmelzwannen.“ Zu klein, um kostengünstig zu produzieren. Seit 1969 wird in Oschatz Textil-Glas produziert. Am 1. Juli 1990 hatte der Betrieb 1378 Mitarbeiter und 52 Lehrlinge. „Da waren wir noch Treuhandbetrieb“, sagt Queißer.

Im Oktober 1990 folgte die erste Entlassungswelle, bei der 200 Mitarbeiter entlassen wurden. „Im Mai kam die zweite, die große Welle. Da hatten wir eine große Versammlung, der Saal war voll, wo ich schon dachte: ‚Hier kommst du nicht mehr heil raus‘“, erinnert er sich. 500 weitere wurden entlassen. Weil ganze Familien beschäftigt waren, wurde zugesehen, dass es nur einen pro Familie traf. Ein Notnagel.

„Es gab den NSW-Export nicht mehr, das war für uns eine tragende Säule“, erklärt er. Die bisherigen Kontakte – bis dahin ein fester, zuverlässiger Rückhalt – brachen als Abnehmer über Nacht weg, weil die Oschatzer nicht mehr zu den bisherigen Preisen liefern konnten. „Wir konnten unter diesen Umständen auch die Kosten nicht mehr halten. Wir hatten zu viel Personal zugegebenermaßen.“

Mit der Unternehmensgruppe von Jürgen Preiss-Daimler wurde dann ein Investor gefunden. Als ein Kredit von der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) bewilligt war, bauten sie eine erste große Wanne. „Man muss investieren, um mit den Kosten mithalten zu können. Wer nicht investiert, stirbt.“ Preiss-Daimler übernahm das Glasseidenwerk 1993 mit sechs anderen Firmen, da hatten wir 260 Mitarbeiter. Zuletzt, bevor Queißer in den Ruhestand ging, seien es wieder um die 340 gewesen.

„Wir hatten gutes Fachwissen, gute Leute in der Produktion und in der Entwicklung neuer Glasfaserbeschichtungen, einen guten Vertrieb, in der Buchhaltung und Controller. Wir hatten eine gute Mannschaft“, sagt Queißer über seine Zeit im Betrieb. „Als es uns gut ging, sind wir dann auch den Weg gegangen, dass wir ins Ausland investiert haben.“

Investitionen zunächst in Lettland, dann in Tartastan (Russland) oder auch Dublin, Georgia (USA). Ihr Know-how transferierten die Oschatzer auch nach China bis Queißer 2006 ausschied.„Oschatz wurde zu meiner Zeit sehr häufig von den Großen besucht“, sagt er nicht ohne Stolz. Ministerpräsident Kurt Biedenkopf war 1997 zu Inbetriebnahme der großen Wanne da, 1999 besichtigte Georg Milbradt das Werk, das 2003 den „Oskar des Mittelstandes“ gewann. „Wir hatten die Nase so richtig im Wind.“

Der hat sich wieder gedreht: Zukünftig sind es Zulieferer, die das Oschatzer Werk mit Glasseide beliefern. Mitte Juli wurde die große Schmelzwanne abgestellt. Im internationalen Vergleich seien die Energiekosten in Deutschland zu hoch, begründete das Unternehmen den Schritt. Weil das so ist, fiel erst jüngst der Wasserturm im Glasseidenwerk, der schon von weithin zu sehen war. Er führte kein Kühlwasser mehr und seine Standsicherheit sei daher nicht mehr gewährleistet gewesen, erklärte Dr. Armin Plath, Geschäftsführer des Oschatzer Glasseidenwerkes.



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Die Teile wurden dabei dem Monat zugeordnet, in dem der Originalartikel vor 30 Jahren in der Zeitung stand. Bereits erschienen sind:



Teil eins, November: Die friedliche Revolution in Oschatz. Der ehemalige Superintendent Martin Kupke erzählt von den Entwicklungen im November 1989.

Teil zwei, Juni: Elfriede Herrmann und der Sport in der DDR. Die Oschatzer Turngröße erzählt, was sich im Sport seit der Wende verändert hat.

Teil drei, Mai: Peter Noack und sein erster Trabant. Der Riesaer erzählt uns von seiner Liebe zu einem Automobil "Made in GDR".

Teil vier, Oktober: Gabi und Roland Fischer nehmen uns mit ins Neubaugebiet in Oschatz-West, das im Oktober 1989 noch im Bau war.

Teil fünf, August: Wilfried Queißer erinnert sich, wie er das Oschatzer Glasseidenwerk vor der Abwicklung rettete.

Teil sechs, April: Frank Voigtländer beschreibt uns hinter dem Tresen der Diskothek Halli Galli in Kleinpelsen, wie sich das Feiern in der ländlichen Region über die Jahre verändert hat.

Teil sieben, September: Gabi Liebegall hat die Wende in Oschatz journalistisch begleitet. Änderte sich ihre Arbeit nach dem Mauerfall?

Teil acht, Februar: Jörg Petzold, Präsident des Dahlener Carneval Vereins, erinnert sich an die Anfänge der Narren in der Heidestadt kurz nach der Wende.

Teil neun, März: Oberbürgermeister Andreas Kretschmar erzählt zum Abschluss, wie er die Zeit der Wende vor 30 Jahren erlebt hat und wie sich die Stadt bis zum heutigen Tag entwickelt hat.

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Idee und Konzeption: Hanna Gerwig und Manuel Niemann

Texte: Hanna Gerwig, Manuel Niemann

Videos/ Audios: privat, DDR-Fernsehen, Hanna Gerwig, Manuel Niemann
Bilder: Günther Hunger, Dirk Hunger, Dahlener Carnevals Club, Hanna Gerwig, Manuel Niemann, privat

Titelcollage: Patrick Moye
Redaktion und Beratung: Gina Apitz

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Kapitel 3

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