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Wendegeschichten: Discofieber

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Viel hat sich seit der Wende vor 30 Jahren verändert. Die Redaktion der OAZ hat das Jubiläum zum Anlass genommen, noch einmal zu den Zeitungen von damals zu greifen und zu fragen: Was ist aus den Menschen und Geschichten geworden? Wie haben sich Schauplätze in der Stadt und im Umland verändert? Und wie blicken die Oschatzer heute auf das Jahr 1989 und die folgenden Jahrzehnte zurück?

Für den sechsten Teil trafen wir Frank Voigtländer, dessen Familie die Diskothek Halli Galli in Kleinpelsen seit 1981 betreibt. Mit uns sprach er über seine Zeit hinter dem Tresen und wie sich das Feiern in der ländlichen Region über die Jahre verändert hat.

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Frank Voigtländer ist noch klein, als seine Eltern 1981 die Diskothek Halli Galli in Kleinpelsen eröffnen. Schon in seiner Jugend hilft er aus, später übernimmt er den Laden.

Auf ein Foto möchte er nicht, von seiner Zeit hinterm Tresen und wie sich das Feiern in der ländlichen Region über die Jahre geändert hat, spricht er aber gern.

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Herr Voigtländer, Sie standen schon als 12-Jähriger hinter der Garderobe im Halli Galli. Können Sie sich an die Zeit vor der Wende noch erinnern?

Dunkel. Es war wirklich ganz anders damals. Um sieben haben wir die Tür aufgeschlossen, um acht waren alle da. Für uns war das angenehm von der Zeit her, aber man durfte ja auch nicht länger, nur bis kurz nach Mitternacht. Ob dann auch wirklich Schluss war, wurde kontrolliert.

Was änderte sich denn dann nach 1989?

Komplett alles. Es war ja auch die Musik während der DDR zensiert und vorgeschrieben. Da musste der DJ noch auflisten, was da gespielt wurde am Abend. Nach der Wende kam dann querbeet alles, es ging in Richtung Großraumdisco. Zeitweise hatten wir mehrere Läden, zum Beispiel in Leißnig und Aue. Wir haben viel investiert, viel aufgebaut und dann umgebaut, wenn alles wieder uninteressant wurde. Die Leute waren schnell übersättigt und wir unerfahren. Heute denk ich: Das Augenmerk der Jugendlichen liegt gar nicht auf irgendeiner Einrichtung. Wenn da ein guter DJ steht, können die auch in einer Lagerhalle feiern gehen.

Wie hat sich denn seit damals das Klientel gewandelt, das im Halli Galli feiern geht?

Die sind heute ein bisschen jünger, schätze ich. Früher, zu DDR-Zeiten waren die im Schnitt so 25 und kamen in richtigen Dorfcliquen. Da war es die Ausnahme, dass mal einer zuhause blieb. Die Jugend ist dann jeden Sonnabend gemeinsam hergelaufen oder mit dem Rad gefahren. Die haben auch noch ein bisschen mehr Wert auf ihr Äußeres gelegt. Manche kommen heute in Jogginghosen. Das hat vielleicht auch mit den verschiedenen Tanzstilen zu tun. Damals gab's noch die sogenannte langsame Runde mit den Schmuseballaden.

Dann hat sich bestimmt auch das eine oder andere Paar hier getroffen?

Viele, viele! Einige wohnen auch heute noch im Dorf – verheiratet. Da gab es auch die Handys noch nicht, die Leute haben mehr geredet und sich kennengelernt. Wenn ich die Jugend heute beobachte – die sitzen an einem Tisch und manchmal hat jeder ein Handy in der Hand.

Vermissen Sie die frühere Zeit?

Ich sag mal so: Es war früher einfacher. Definitiv einfacher. Da war eben jeden Samstag Disko – wir mussten nicht über Facebook werben, Plakate aufhängen oder uns irgendwelche verrückten Sachen ausdenken. Aber momentan geht es. Wir profitieren davon, dass gerade relativ viele junge Leute die Schule beenden und das natürlich feiern wollen.

Interview: Hanna Gerwig

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Halli Galli in Kleinpelsen: Chronik einer Disconacht

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22.30 Uhr: ​Noch ist der Parkplatz so leer, dass man die wenigen Autos an einer Hand abzählen kann. Da ist der zitronengelbe Mini Cooper, der abgenutzte Seat Ibiza mit dem Panzertape-geflickten Rückspiegel und ganz hinten der alte Ford, der im Dunkel fast nicht mehr zu erkennen ist. Es ist kalt und still – zu still eigentlich dafür, dass wir auf dem Weg zu einer Party sind. 90er-Beats hatte der Flyer versprochen, einen DJ, Neonlicht und eine große Tanzfläche. Ein erster Blick durch die Fenster des einsamen Hauses auf der anderen Straßenseite, lässt davon nichts erkennen. Stattdessen: Ein kleiner Schankraum mit einem hölzernen Tresen, davor zwei ältere Männer, die sich an ihre Biergläser klammern. Nur das Schild über der Tür mit dem Schriftzug “Halli Galli” zeugt von davon, dass sich im Inneren eine Diskothek verbergen soll – eine der letzten der Region.


22:40 Uhr: Mittlerweile stehen immerhin fünf Autos auf der Parkfläche. Aus einem wanken gerade zwei Jungs, von denen einer noch einen letzten Schluck aus einer Softdrink-Flasche nimmt. Die junge Fahrerin wirkt nüchtern und stapft ein bisschen missmutig hinter den beiden her, direkt durch den Eingang in einen langgezogenen Flur. Jetzt sind sie zu hören, die 90er-Bässe. „Baby don‘t hurt me“ schallt uns von oben entgegen. Den Einlass kontrolliert eine Gruppe gut gelaunter Männer, die kurz die Ausweise checken und dann Knicklichter in Neonfarben verteilen. Einer von ihnen ist Frank Voigtländer, der Inhaber der Diskothek, mit dem wir später noch sprechen wollen.


22:45 Uhr: Das erste Stockwerk erinnert an eine Großraumdisco auf Mallorca. Über die Tanzfläche wabern ein paar einsame Luftballons, darüber hängt eine dekorative Plastikpalme. So richtig traut sich noch niemand zu tanzen, ein paar Teenagerinnen heben kaum den Blick von ihren Handys, einige junge Männer an der Bar nicken zumindest probehalber im Takt.


23:15 Uhr: Der Raum füllt sich wie auf ein geheimes Zeichen hin. Wo kommen die ganzen Menschen her? Die Teenagermädchen haben ihre Handys weg gesteckt und taxieren jetzt die Tanzfläche. In den Sofaecken sind erste, zögerliche Flirtversuche zu beobachten. Der DJ spielt „Crazy“ von Seal und langsam kommt Bewegung in die Menge, es wird mit den Füßen gescharrt. Ein Mutiger pflügt durch die Luftballons und kickt sie in die Luft. Das Eis ist gebrochen.


24:00 Uhr: Es wird getanzt. Spätestens mit den Backstreet Boys hat der DJ die Menge gekriegt. Zeit für eine kurze Umfrage: Wer sind die Menschen, die hier gemeinschaftlich ein Jahrzehnt feiern, das viele von ihnen gar nicht bewusst miterlebt haben?

Da sind zum einen Anne und Dorin aus Oschatz. Die beiden 18-Jährigen hat es zum zweiten Mal ins Halli Galli verschlagen, manchmal gehen sie auch gerne in Leipzig feiern. „Hier in der Gegend gibt es einfach nicht viel. Vielleicht noch das E-Werk in Oschatz“, sagt Abiturientin Anne. Sie will die Zeit bis zum Studium nutzen, um mit ihren Freunden zu tanzen und Spaß zu haben - das „Halli“ sei zwar nur mit dem Auto zu erreichen, dafür gebe es in ihrer Klasse aber Fahrgemeinschaften.

Torben, Jona und Manu aus Naunhof sind Stammgäste in Kleinpelsen. Sie heißen eigentlich anders und sind, nach eigener Aussage, vor allem zum Trinken in der Disco. Und um Frauen zu treffen – was sich dank der eingeschränkten Artikulationsfähigkeit der Drei schwierig gestaltet. Letztendlich umarmen die Freunde sich gegenseitig und schunkeln zu „Hit me, baby, one more time“ davon.

Die 24-jährige Luisa geht den Abend ruhiger an und bleibt erst mal bei ihrer Cola. „Ich bin quasi im Halli aufgewachsen“, erzählt die junge Frau aus Mügeln. Früher sei sie schon mit „Mutti-Zettel“ und älteren Freunden tanzen gewesen. „Es ist hier immer schön und entspannt, keiner macht Stress, wir können in Ruhe feiern, auch unter uns Mädels“, sagt sie. Das Publikum an diesem Abend sei übrigens typisch für das Halli Galli – die Altersspanne reicht von 18 bis etwa 60 Jahre.


01:00 Uhr: Die Stimmung hat ihren Höhepunkt erreicht. Am Rand des Geschehens legt ein älteres Pärchen einen Discofox aufs Parkett, im Zentrum johlt die Jugend. Torben, Manu und Jona haben den Zenit ihres Abends schon überschritten und wanken bleich von einem Bein aufs andere, bevor Torben zur Toilette eilt. Bis fünf Uhr noch wird das etwa so weitergehen, erzählt uns Frank Voigtländer. Jetzt, da die Tanzfläche voll ist und nur noch wenige Gäste eintrudeln, hat er Zeit für uns. Im Schankraum neben dem Eingang setzen wir uns zusammen und lassen uns erzählen, was vor der Wende anders war (siehe Interview auf der Vorseite).


02:00 Uhr: Als wir nach dem Gespräch wieder auf den Flur treten, lässt der Bass den Boden vibrieren. Frank Voigtländer verabschiedet sich, er hat – genau wie seine Gäste – noch einige Stunden vor sich. Unsere Disconacht dagegen ist vorbei.

Protokoll: Hanna Gerwig

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Die Teile wurden dabei dem Monat zugeordnet, in dem der Originalartikel vor 30 Jahren in der Zeitung stand. Bereits erschienen sind:



Teil eins, November: Die friedliche Revolution in Oschatz. Der ehemalige Superintendent Martin Kupke erzählt von den Entwicklungen im November 1989.

Teil zwei, Juni: Elfriede Herrmann und der Sport in der DDR. Die Oschatzer Turngröße erzählt, was sich im Sport seit der Wende verändert hat.

Teil drei, Mai: Peter Noack und sein erster Trabant. Der Riesaer erzählt uns von seiner Liebe zu einem Automobil "Made in GDR".

Teil vier, Oktober: Gabi und Roland Fischer nehmen uns mit ins Neubaugebiet in Oschatz-West, das im Oktober 1989 noch im Bau war.

Teil fünf, August: Wilfried Queißer erinnert sich, wie er das Oschatzer Glasseidenwerk vor der Abwicklung rettete.

Teil sechs, April: Frank Voigtländer beschreibt uns hinter dem Tresen der Diskothek Halli Galli in Kleinpelsen, wie sich das Feiern in der ländlichen Region über die Jahre verändert hat.

Teil sieben, September: Gabi Liebegall hat die Wende in Oschatz journalistisch begleitet. Änderte sich ihre Arbeit nach dem Mauerfall?

Teil acht, Februar: Jörg Petzold, Präsident des Dahlener Carneval Vereins, erinnert sich an die Anfänge der Narren in der Heidestadt kurz nach der Wende.

Teil neun, März: Oberbürgermeister Andreas Kretschmar erzählt zum Abschluss, wie er die Zeit der Wende vor 30 Jahren erlebt hat und wie sich die Stadt bis zum heutigen Tag entwickelt hat.

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Video

Idee und Konzeption: Hanna Gerwig und Manuel Niemann

Texte: Hanna Gerwig, Manuel Niemann

Videos/ Audios: privat, DDR-Fernsehen, Hanna Gerwig, Manuel Niemann
Bilder: Günther Hunger, Dirk Hunger, Dahlener Carnevals Club, Hanna Gerwig, Manuel Niemann, privat

Titelcollage: Patrick Moye
Redaktion und Beratung: Gina Apitz

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