Multimedia-Serie Oschatz 1989 Teil vier: Das Paradies in der Platte
Viel hat sich seit der Wende vor 30 Jahren verändert. Die Redaktion der OAZ hat das Jubiläum zum Anlass genommen, noch einmal zu den Zeitungen von damals zu greifen und zu fragen: Was ist aus den Menschen und Geschichten geworden? Wie haben sich Schauplätze in der Stadt und im Umland verändert? Und wie blicken die Oschatzer heute auf das Jahr 1989 und die folgenden Jahrzehnte zurück?
Im vierten Teil unserer Multimedia-Reportage zum Herbst ’89 besuchen wir Gabi und Roland Fischer. Das Ehepaar lebt seit 29 Jahren in seinem "Paradies in der Platte" in Oschatz-West.
Damals... Die Platte in Oschatz
"Gucke, wie es wächst", schreibt die OAZ im Jahr 1989 über das Neubaugebiet in Oschatz-West. Neue Wohnungen wurden dringend benötigt, gerade junge Paare mussten oft jahrelang auf ihre eigenen vier Wände warten. So ging es auch Gabi und Roland Fischer, die am Tag der Deutschen Einheit ihre Wohnung in der Plattenbausiedlung bezogen - und dort bis heute nicht wieder weg wollen.
Das Paradies in der Platte
Das Paradies in der Platte
Die Fischers und ihr Traum vom Zuhause
Auf dem Beistelltisch stehen eine Vase mit Narzissen, ein Teller mit Pfannkuchen und drei Tassen Kaffee. "Jetzt rutsch doch mal durch", sagt Gabi Fischer, die gerade mit dem Zuckerstreuer aus der Küche kommt. "Nichts da", sagt ihr Mann Roland und tätschelt ihr das Knie. "Ich sitz' auf meinem Platz. Wie immer."
Sie seufzt und drängelt sich am Kopf der Sofalandschaft vorbei, die Roland in Beschlag genommen hat. "So isser halt", sagt sie. Gabi und Roland Fischer kennen einander wie ihre sprichwörtliche Westentasche.
Seit 39 Jahren sind sie verheiratet, seit 29 Jahren wohnen sie in ihrer Dreiraumwohnung in der Friedrich-Engels-Straße in Oschatz-West. "Im allerletzten DDR-Block, den sie überhaupt gebaut haben", erklärt Roland Fischer ein wenig stolz. "Am Tag der Deutschen Einheit 1990 sind wir eingezogen. Danach war natürlich Schicht im Schacht".
Wohnungsnot in der DDR
Mit dem Bezug ihres neuen Heims ging für die Fischers ein Traum in Erfüllung, auf den sie sieben Jahre warten mussten. Schon 1983 hatte sich das Paar für die Wohneinheit bei der Arbeiterwohnungsbaugenossenschaft (AWG) angemeldet. "Ich hab' damals bei der Eisenbahn gearbeitet und von da aus haben sie Wohnungen vergeben. Wir haben dann eine mitgekriegt", sagt Gabi Fischer.
Da ihr Mann zur gleichen Zeit seine Karriere als Musiker und Alleinunterhalter startete, und dafür regelmäßig schwere Instrumente transportieren musste, kam nur ein Erdgeschossapartment in Frage - was die Wartezeit zusätzlich in die Länge zog. "Zu der Zeit war hier ja auch noch nichts. Nur Land und Dreck", sagt Roland Fischer.
An ein neues Zuhause habe er deswegen lange nicht geglaubt. Sein Zweifel kam nicht von ungefähr. Denn obwohl es so etwas wie Wohnungsnot in der DDR offiziell gar nicht hätte geben sollen - die SED hatte jedem Bürger bis 1990 eine Wohnung versprochen - sah die Realität anders aus. Den aufwendigen Wohnungsbauprojekten ging bald das Geld aus. Die besten Chancen auf ein eigenes Heim hatten Familien mit vielen Kindern. Wer allein stehend oder in der Ehe kinderlos geblieben war, hatte schlechte Karten.
Auch nach der Hochzeit: Wohnen bei Mama
Gabi und Roland lernten sich im Sommer 1978 kennen. Sie war 18 Jahre alt, er 23, als er während einer Disco in Oschatz auf sie aufmerksam wurde. "Sie stand da am Tisch mit ihrer Freundin Petra. Und zufällig fand ich sie beide gar nicht schlecht", erzählt Roland Fischer und lacht. Also tanzte er zuerst mit Petra und fragte dann Gabi. Die aber rauchte seelenruhig ihre Zigarette und ließ ihn abblitzen. Nachdem sie sich doch von ihm überzeugen ließ, gingen sie einige Male miteinander aus und verliebten sich. Zwei Jahre später wurde geheiratet.
"Die Wohnungssuche danach war eine Katastrophe", erzählt Roland Fischer und Gabi setzt hinzu: "Es gab einfach nichts." Abwechselnd lebten sie deshalb mal bei ihrer, mal bei seiner Mutter. "Immer wenn's geknallt hat, sind wir wieder umgezogen", erinnert er sich. Auch andere Umstände belasteten das junge Paar. Nachdem auch Roland Fischer begonnen hatte, bei der Deutschen Reichsbahn zu arbeiten, bekamen sie sich durch das Schichtsystem kaum noch zu Gesicht.
Zwei Mal fuhr der junge Mann deshalb nach Berlin - einmal zum Staatsrat und einmal ins Zentralkomitee der SED - um sich über die Zustände in "der Provinz" zu beschweren. "Irgendwie hat das Früchte getragen", sagt Roland Fischer, obwohl er zugibt, vor beiden Gesprächen nervös gewesen zu sein. Einige Wochen später bekamen er und seine Frau die gleichen Schichten zugeteilt und eine Wohnung zur Verfügung gestellt. "Dann klappte es plötzlich auch wieder mit dem Eheleben."
Kohle, Kälte, Kachelofen: Umzug in den Altbau
Die neue Bleibe lag im alten Arbeitsamt in der Dresdener Straße. Ein Altbau mit Schrankbad und einer Außentoilette, der sich dank fast vier Meter hoher Decken kaum heizen ließ. "Ich musste dauernd Kohlen aus dem Keller hochschleppen und den Herd in der Küche und den Kachelofen in der Stube anfeuern", sagt Gabi Fischer. Trotzdem: Es war ihr erstes eigenes Zuhause und sie richteten es liebevoll ein.
Als die Kinder kamen - der Sohn Mario 1984, die Tochter Mandy zwei Jahre später - trennten sie vom Schlafzimmer ein Eckchen ab und bauten ihnen eine Höhle.
Während Roland sich umorientierte und erst als Musiker und später als Alleinunterhalter in Oschatz bekannt wurde, blieb Gabi bei der Eisenbahn. Über die kam später auch das Angebot für die Wohnung im Stadtteil West.
"Wir wollen hier nie wieder weg"
"Als wir dann hier eingezogen sind - das war vielleicht ein Hallo",
lacht Roland Fischer. Die Kinder seien von ihrem neuen großen Zimmer
ganz aus dem Häuschen gewesen. "Aber auch für uns war es die schönste,
modernste Wohnung. Eine wunderbare Wohnung", sagt er. "Jetzt lass mich
doch mal vorbei." Gabi Fischer schiebt sich noch einmal zwischen Mann
und Tisch hindurch, um die Fotobücher zu suchen.
Sie blättert durch die
Jahre - Babybilder, Familienfeste, Ausflüge - bis sie bei der
Einschulung ihres Sohnes ankommt. "Das ist schon hier", sagt sie und
deutet auf die Platte im Hintergrund einer lächelnden Familie. Die
gemütliche Küche, das kleine Duschbad, das Kinder- und das
Elternschlafzimmer, tauchen selten auf Bildern auf. Umso häufiger dafür
das Wohnzimmer, die Einrichtung als Zeugin der sich ändernden Mode. Die
Spitzengardinchen und die Palmentapete gibt es längst nicht mehr. Nur
die braune Schrankwand hat unerschütterlich die Jahre überdauert.
Dass
heute kaum noch jemand im Plattenbau wohnen möchte, ist den Fischers
klar. Für sie käme ein Umzug aber nie in Frage. "Wir haben doch hier
alles. Und es ist gut geschnitten: Drei Zimmer, jeder Raum hat eine Tür
und ein Fenster", sagt Roland Fischer und sieht seine Frau an. "Für uns
bleibt es die perfekte Wohnung. Fast ein kleines Paradies. Und wir
wollen niemals weg."
Oschatz 1989 - Die Übersicht Über die folgende Übersichtsseite können Sie auf alle Geschichten zugreifen, die im Zuge der Oschatzer Wendeserie bereits veröffentlicht wurden.
Die Teile wurden dabei dem Monat zugeordnet, in dem der Originalartikel vor 30 Jahren in der Zeitung stand. Bereits erschienen sind:
Teil eins, November: Die friedliche Revolution in Oschatz. Der ehemalige Superintendent Martin Kupke erzählt von den Entwicklungen im November 1989.
Teil zwei, Juni: Elfriede Herrmann und der Sport in der DDR. Die Oschatzer Turngröße erzählt, was sich im Sport seit der Wende verändert hat.
Teil drei, Mai: Peter Noack und sein erster Trabant. Der Riesaer erzählt uns von seiner Liebe zu einem Automobil "Made in GDR".
Teil vier, Oktober: Gabi und Roland Fischer nehmen uns mit ins Neubaugebiet in Oschatz-West, das im Oktober 1989 noch im Bau war.
Teil fünf, August: Wilfried Queißer erinnert sich, wie er das Oschatzer Glasseidenwerk vor der Abwicklung rettete.
Teil sechs, April: Frank Voigtländer beschreibt uns hinter dem Tresen der
Diskothek Halli Galli in Kleinpelsen, wie sich das Feiern in der ländlichen Region über die Jahre verändert hat.
Teil sieben, September: Gabi Liebegall hat die Wende in Oschatz journalistisch begleitet. Änderte sich ihre Arbeit nach dem Mauerfall?
Teil acht, Februar: Jörg Petzold, Präsident des Dahlener Carneval Vereins, erinnert sich an die Anfänge der Narren in der Heidestadt kurz nach der Wende.
Teil neun, März: Oberbürgermeister Andreas Kretschmar erzählt zum Abschluss, wie er die Zeit der Wende vor 30 Jahren erlebt hat und wie
sich die Stadt bis zum heutigen Tag entwickelt hat.
Wendegeschichten aus Oschatz Mit ausdrücklichem Dank an alle Interviewpartner aus Oschatz und Umgebung.
Idee und Konzeption: Hanna Gerwig und Manuel Niemann
Texte: Hanna Gerwig, Manuel Niemann
Videos/ Audios: privat, DDR-Fernsehen, Hanna Gerwig,
Manuel Niemann
Bilder: Günther Hunger, Dirk Hunger, Dahlener Carnevals Club,
Hanna Gerwig, Manuel Niemann, privat
Titelcollage: Patrick Moye
Redaktion und Beratung: Gina Apitz
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