Vierteilige Serie 100 Millionen Euro für Grünau So könnte sich das Viertel in Zukunft entwickeln
Zu DDR-Zeiten waren Wohnungen in Grünau begehrt, nach der Wende machten Bagger die Hochhäuser platt. Heute ziehen wieder mehr Menschen in den Stadtteil im Leipziger Westen. Doch das Viertel kämpft noch immer mit Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Für die vierteilige Serie haben wir uns vor Ort umgesehen. Wie blicken die Menschen auf ihren Kiez? Welche Probleme hat Grünau im Moment?
Im 4. Teil geht es um die Zukunft des Stadtteils.
Diese Reportage wird präsentiert von Matchball.
„Das Verständnis miteinander zu leben, ist problematisch“
„Das Verständnis miteinander zu leben, ist problematisch“
Reinhard Möller ist aufgebracht. Schnellen Schrittes läuft er durch die Fußgängerzone in der Stuttgarter Allee und bleibt vor Jens Iwan stehen. „Es ist schlimm“, klagt der 67-Jährige dem Bürgerpolizisten sein Leid. Der Rentner wohnt in der 8. Etage in einem der Punkthochhäuser in Grünau-Mitte. Heute haben Jugendliche wieder die Feuerlöscher geklaut. Über ihm wohnt eine Kurdenfamilie, die schon zwei Mal die Wohnung unter Wasser gesetzt habe und ständig Krach mache. Und jetzt habe er sich noch die Schulter gebrochen.
„Ich kann nicht mehr, ich traue mich nicht mehr vor die Tür“, ruft er. Von seinem Fenster aus beobachtet der Senior, wie Drogen gedealt werden. „Wenn das Polizeiauto um die Ecke kommt, tauchen die Kerle ab“, sagt Möller, der seinen richtigen Namen nicht nennen will. „Ansonsten brauche ich Polizeischutz“, sagt der Rentner. „Ich bin ja schon da“, entgegnet Jens Iwan und lächelt.
Der Polizist zeigt Verständnis für die Sorgen des Anwohners. „Das subjektive Sicherheitsgefühl in den Punkthochhäusern ist nicht gerade das Beste“, gibt er zu und verspricht, sich mit der Wohnungsgenossenschaft in Verbindung zu setzen. Und was die Drogenkuriere angeht: „Es wird regelmäßig kontrolliert.“ Heute rollt ein Streifenwagen durch den Stadtteil. Die Polizisten ermahnen die Jugendlichen, dass sie die Musik nicht so laut aufdrehen sollen.
Ein offenes Ohr für die Beschwerden der Grünauer zu haben, das ist Jens Iwans Alltag. Seit 1998 ist er als Bürgerpolizist im Einsatz. 14 Jahre lang war er in der Eisenbahnstraße auf Achse. Seit fünf Jahren ist sein Revier Grünau-Mitte und Ost, ein Gebiet, in dem 20.000 Menschen leben. Vor einem Jahr hat die Polizei die Gegend rund um den Marktplatz als „gefährlichen Ort eingestuft“. Leipzigs Polizei-Präsident Bernd Merbitz bezeichnete den Bereich rund um das Grünauer Allee-Center kürzlich als einen der Kriminalitätsschwerpunkte der Stadt.
Seit mehr Ausländer in Grünau wohnen, gebe es neue Konflikte, bestätigt Bürgerpolizist Iwan. „Das Verständnis miteinander zu leben, ist problematisch“, so der 56-Jährige. Seit die Migranten hier sind, fühlen sich die alten Grünauer nicht mehr sicher. Oft erreichen ihn Beschwerden, was Lärm betrifft. „Ich würde mir wünschen, dass die Menschen hier nicht nur mit der Faust auf den Tisch hauen, sondern anfangen miteinander zu reden.“
Polizist zum Anfassen
Konflikte verbal lösen, das ist seine Strategie. Der Bürgerpolizist ist zwar mit Reizgas und Dienstwaffe ausgestattet, Gebrauch gemacht hat er von beidem noch nie. Seit zwei Jahren läuft er mit dem Ordnungsamt zusammen Streife. Gemeinsam schauen sie nach Falschparkern, Autos ohne Kennzeichen und Müllecken.
Die Kooperation war seine Idee. Ein Vorteil: In brenzligen Situationen hat Iwan eine zweite Person als Zeugen dabei. „Die Streife wird von der Bevölkerung wohlwollend aufgenommen“, sagt er.
Zwischenstopp bei Andreas Preusche, der auf der Stuttgarter Allee einen Fahrradladen betreibt. Der 61-Jährige findet es „sehr wichtig“, dass die Polizei in Grünau Flagge zeigt, sich bemüht, präsent zu sein. Preusche schimpft nicht allein auf die Migranten. „Es sind auch Einheimische, die hier randalieren“, sagt der gebürtige Chemnitzer.
Kampf gegen Kinderbanden
Während der Polizist im Fahrradladen öfter vorbeischaut, war er in
einigen Einrichtungen schon zwei Jahre nicht mehr. Er schafft es nicht,
regelmäßig Kontakt zu halten. „Das macht mich persönlich traurig“, sagt
Iwan. „Wir bräuchten mehr Unterstützung.“
Allein könne er gegen Ladendiebstähle, Einbrüche, Körperverletzung und
Beleidigungsdelikte nicht viel ausrichten. Bei den Straftaten liegen
Grünau-Mitte und Ost innerhalb des Stadtteils vorn. „Wir müssen hier den
Schwerpunkt setzen“, sagt Iwan. „Wir müssen schauen, dass Grünau kein
Brennpunkt wird.“
Dass sich Polizeiarbeit auszahlt, zeige das Problem der Kinderbanden, die vor einigen Jahren die Menschen im Quartier terrorisierten. Jugendliche, einige jünger als zwölf Jahre alt, bildeten regelrechte Diebesbanden. „Sachbeschädigung, Beleidigung und Körperverletzung“, zählt Iwan die Vergehen auf.
„In enger Zusammenarbeit mit verschiedenen Dienststellen sind wir dem Problem ziemlich schnell Herr geworden“, sagt der Bürgerpolizist. Die Banden lösten sich auf. Ähnlich geht die Polizei mit dem wachsenden Drogenumschlag in Grünau um. Polizeistreifen versuchen zu verhindern, dass sich eine Szene wie am Schwanenteich im Leipziger Zentrum oder in der Eisenbahnstraße etabliert.
Kurz vor 17 Uhr: Jens Iwans trifft sich gleich mit zwei Mitarbeitern des Ordnungsamts. Seine Streife durch den Kiez beginnt.
„Ich habe keine Angst um den Stadtteil“
„Ich habe keine Angst um den Stadtteil“
Antje Kowski ist gestresst. Ihr Kind ist krank, der Terminkalender voll. Trotzdem nimmt sich die Quartiersmanagerin Zeit für ein Gespräch im Grünauer Stadtteilladen in der Stuttgarter Allee. Seit 2006 versucht das Quartiersmanagement gemeinsam mit Schulen, Kitas, Wohnungswirtschaft, Bürgern und Politik den Stadtteil voranzubringen. Ging es anfangs um Themen wie Leerstand und Abriss, seien die Planer jetzt in einem anderen Prozess, sagt die 41-Jährige. „Weg von Schrumpfung und Schließung hin zu Wachstum und Sanierung.“
Diese Themen beschäftigen die Stadtteilentwickler:
Armut
In Grünau-Mitte leben über 50 Prozent der Kinder in Armut, 30 Prozent brechen die Schule ab. „Das macht uns große, große Sorgen“, so Antje Kowski. Es werde zwar versucht, Kinder aus prekären Familien zu unterstützen, etwa über eine kostenlose Essensausgabe und Gratis-Nachhilfe-Unterricht. „Es gibt aber da leider Grenzen“, sagt sie. Gefragt seien kreative Lösungen und weitere Angebote für Kinder und Jugendliche. Bisher seien diese „eher überschaubar“. Grünau habe gerade Mal drei offene Freizeitreffs für Kinder und Jugendliche.
Schulen
Bis 2022 will die Stadt Leipzig knapp 100 Millionen Euro in Grünauer Bildungseinrichtungen stecken. Kowski begrüßt die Initiative, kritisiert aber, dass die Stadt viele Schulgebäude über Jahre verfallen ließ. Grünau käme langsam heraus aus seiner Stiefkindrolle, der Stadtteil rücke stärker in den Fokus, sei mittlerweile ein Schwerpunktgebiet im Integrierten Stadtentwicklungskonzept. „Das ist ein Signal.“ An den ersten Schulen werde bereits gebaut. Inzwischen gebe es an jeder Schule einen Sozialarbeiter. Kowski wünscht sich, dass es noch mehr werden und auch Kitas Sozialarbeiter bekommen.
Drei Mal so viele Migranten
Drei Mal so viele Migranten
Migranten
Der Anteil an Migranten habe sich in den vergangenen zwei Jahren in Grünau verdreifacht, so Kowski. Die neuen Bewohner treffen im Viertel auf eine große Zahl bildungsferner Familien, von denen viele Hartz 4 beziehen. Dies führe zu Konflikten. „Das ist eine der großen Herausforderungen, vor der wir stehen, um den sozialen Frieden künftig zu erhalten“, sagt sie.
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Zwar gebe es schon gute Projekte wie das Mütterzentrum. „Doch das Thema Integration wird uns noch lange begleiten.“ Besonders schwierig sei das Verhältnis in den vier Punkthochhäusern, die der Leipziger Wohnungsbaugesellschaft gehören. Seit September vergangenen Jahres soll ein Sozialhausmeister dort Konflikte entschärfen. „Er ist eine Art Vertrauensperson, wie der Hausmeister zu DDR-Zeiten“, sagt Kowski.
Ob diese Maßnahme etwas bringt, könne man noch nicht abschätzen. „Wir haben aber das Gefühl, dass es ruhiger geworden ist“, so die Quartiersmanagerin. „Früher stand die Polizei fünf Mal pro Woche vor der Tür, jetzt nur noch zwei Mal pro Woche.“
Kriminalität
Seit einem knappen Jahr gibt es eine verstärkte Polizeipräsenz im Viertel. Klar werden trotzdem Drogen gedealt, sagt Kowski. Das sei in anderen Stadtteilen auch der Fall. „Daran müssen wir uns gewöhnen.“ Im November vergangenen Jahres wurde vor dem Stadtteilladen eine ältere Dame überfallen. Kowski beobachtete den Vorfall und alarmierte die Polizei. „Nach einer Dreiviertelstunde hatte ich den ersten Polizisten erreicht“, berichtet sie.
„Die Polizei kommt an ihre Grenzen.“ Es sei kein Geheimnis, dass es hier zwei Gangs gebe, eine davon eine kosovo-albanische Clique, von denen sich ein Mitglied kürzlich für einen Mord verantworten musste. Seit der Anführer in Haft sei, habe sich die Situation „ein bisschen entspannt“.
Königspaar in Grünau
Königspaar in Grünau
Grünaus Image verbessern
Das Image von Grünau sei im internationalen Städtevergleich gut, so Kowski. Dort gelte die Siedlung als Vorzeigeviertel. Großwohnsiedlungen in Berlin oder im Ruhrgebiet haben ein viel schlimmeres Image, ist sie überzeugt. Nur in Leipzig gelte Grünau als Ghetto und sozialer Brennpunkt. Diese Stigmatisierung gefällt der Quartiersmanagerin nicht. Es gebe genügend engagierte Menschen, die etwas dafür tun, dass „sich der Stadtteil nicht in einer Abwärtsspirale bis nach unten bewegt“.
Projekte wie das Kunstfestival „Raster Beton“ oder Ausstellungen von der Hochschule für Grafik und Buchkunst lockten auch viele Nicht-Grünauer in den Stadtteil. Und die seien oft positiv überrascht. Einen Höhepunkt bildete der Besuch des niederländischen Königspaars vor einem Jahr, der deutschlandweit Aufmerksamkeit erregte. Seitdem werde das Viertel in der Stadtpolitik anders wahrgenommen. „Ich denke, wir haben es geschafft, Grünau ein Stück weit positiv zu entwickeln“, glaubt sie und blickt optimistisch in die Zukunft. „Ich habe keine Angst um den Stadtteil.“
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LVZ Reportage
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Texte und Videointerviews: Gina Apitz
Fotos und Videodreh: Dirk Knofe
Schnitt: Felix Ammenn (Leipzig Fernsehen)
Konzept und Produktion: Gina Apitz