Besuch in der Wolkenfabrik Das Kraftwerk Lippendorf So wird aus Braunkohle Strom und Wärme erzeugt
Wer von Leipzig in Richtung Süden fährt, kann es kaum übersehen: das Kraftwerk Lippendorf. Weiße Wolken dampfen aus den beiden riesigen Kühltürmen. Der Koloss vor den Toren der Stadt speist Strom ins Netz ein und beliefert Leipzig mit Wärme. Doch wie funktioniert das Kohlekraftwerk genau? Ein Ortsbesuch.
Wie ein Teekessel
Wie ein Teekessel
Ein endlos erscheinender Gang, an dessen Ende ein Konferenzraum liegt. Christian Rosin bittet an einen großen Holztisch. Bevor es auf das Gelände geht, will er grundsätzlich erklären, wie sein Kraftwerk funktioniert. Das macht der Chef am liebsten am Beispiel eines pfeifenden Teekessels: „Wenn das Wasser kocht, treibt der ausströmende Dampf einen kleinen Propeller an, der vor dem Kessel hängt. Würde man noch einen Dynamo hinten dran hängen, lässt sich damit Strom erzeugen.“ Ähnlich seien die Abläufe in Lippendorf. Nur etwas größer – und komplexer.
Seit vier Jahren leitet Rosin das Kohlekraftwerk im Neukieritzscher Ortsteil Lippendorf, 15 Kilometer von Leipzig entfernt. Zuvor arbeitete er hier 16 Jahre lang als Ingenieur. Der 47-Jährige kennt jeden Winkel des Geländes und die Macken mancher Anlagen. An seiner Seite ist heute Lutz Dornberg, 62 Jahre alt, das Werks-Urgestein. Der gebürtige Leipziger ist von Anfang an dabei, begleitete den Bau der Anlage in den Neunzigern.
Er kennt noch das alte, 20 Kilometer entfernte Kraftwerk Thierbach, das 1999 still gelegt wurde. „Die Anlagen sind viel sauberer geworden“, sagt er. „Die älteren Leute wissen noch, wie schmutzig es früher war.“ Mit „früher“ meint Dornberg die DDR-Zeit, in der die Abgase der Kohleverbrennung ungefiltert in die Luft gepustet wurden. Das sei heute vorbei. Der Ingenieur führt fast täglich Interessierte durchs Kraftwerk, erst kürzlich begrüßte er den 200.000 Besucher.
Rosin und Dornberg setzen ihre Helme auf, die Tour beginnt – logisch – zuerst bei der Kohle. Über lange Förderbänder wird der Rohstoff aus dem Tagebau Vereinigtes Schleenhain ins Werk transportiert. Vom hintersten Bagger in der Grube sind das 15 Kilometer. Gemächlich rattern die schwarzen Klumpen in die Fabrik, auf jedem Band liegen etwa 1000 Tonnen.
Der schwarze Staub rieselt überall hin, auch aufs Geländer der Halle. Die Mitteldeutsche Braunkohlengesellschaft (Mibrag) zerkleinert den Rohstoff vorher und mischt ihn aus den Kohleflözen, „damit wir eine gleichbleibende Qualität haben“, sagt Rosin.
Mühlen zermahlen die Kohle in hundertstel Millimeter feinen Staub, „viel feiner als Kaffeepulver“, sagt Lutz Dornberg. Dadurch könne die Kohle schneller verbrannt werden, als wenn sie in fester Form in den Ofen käme.
Die riesigen Mahlräder müssen jedes halbe Jahr gewechselt werden, weil die Kanten der Schlagplatten so schnell abgeschliffen sind.
Über Ventilatormühlen wird der Staub von selbst in die Brennkammer geblasen. Durch eine Luke sieht man die Funken fliegen und einen kleinen Teil der 100 Meter hohen Flamme. Fährt das Werk unter Volllast, werden täglich 34.000 Tonnen Braunkohle verbrannt.
Übrig bleibt Asche, die über zusammengerollte Förderbänder abtransportiert wird. Sie gelangt zurück in den Tagebau, wird zur Böschungsbefestigung genutzt oder für den Straßenbau verwendet. „Die A 38 steht fast komplett auf unserer Asche“, verrät Lutz Dornberg.
Die Tour geht weiter – über Treppen, lange Gänge, durch riesige Hallen. Einige Mitarbeiter radeln vorbei, grüßen. Das Fahrrad ist das ideale Fortbewegungsmittel auf dem 43 Hektar großen Gelände, das so groß ist wie 86 Fußballfelder. Etwa 260 Menschen beschäftigt das Kraftwerk aktuell, dazu kommen noch einmal 100 Azubis. Ein Teil arbeitet im Drei-Schicht-Betrieb, die Anlage läuft 24 Stunden am Tag ab, sieben Tage die Woche.
Damit die Mitarbeiter von den Umkleideräumen trockenen Fußes zu ihrem Arbeitsplatz gelangen, wurde eine Art Gateway angelegt. Den futuristisch anmutenden Gang nennen alle nur den „Skywalk“.
3000 Umdrehungen pro Minute
3000 Umdrehungen pro Minute
Durch eine Tür geht es ins Maschinenhaus von einem der beiden Blöcke, von denen jeder über eine Leistung von 920 Megawatt verfügt. Jetzt wird es laut und heiß: Die beiden Turbinen surren unter ihren Schallschutzhauben, treiben den Generator an, der den Strom produziert. 3000 Umdrehungen pro Minute.
Zwischen den Turbinen stehen die Fernwärmepumpen. „Von hier aus geht das heiße Wasser nach Leipzig“, schreit Lutz Dornberg gegen den Krach an. Ein Teil des Dampfstroms wird entnommen, um damit die Fernwärme für die Messestadt bereitzustellen.
Für die Kondensation des Dampfes wird jede Menge Wasser benötigt: 52.000 Kubikmeter pro Tag, das sind etwa 520.000 Badewannen. Es kommt aus dem Speicherbecken Witznitz und wird vor Ort aufbereitet.
Die Becken erinnern an die Behälter einer Kläranlage, auch der etwas muffige Geruch. „Das gereinigte Wasser hat fast Trinkwasserqualität“, betont Christian Rosin und blickt in das blubbernde Becken. Ein zugesetzter Stoff bindet die Schmutzteilchen, sodass sie auf den Grund absinken.
Die Männer laufen jetzt zur Leitwarte, „dem Herz und Hirn des Kraftwerks“, wie Rosin es nennt. In einem verglasten Raum sitzen Mitarbeiter vor blinkenden Bildschirmen. Im Grunde läuft das Werk vollautomatisch. Gerade mal vier Leute überwachen von hier aus 80 Prozent der Anlage. Eigentlich sei es wie bei einem neuen Auto, so Rosin. „Trotz aller Elektronik, die da drin ist, muss man regelmäßig in die Werkstatt.“
Auch ein Kraftwerk habe Verschleißteile, die von Zeit zu Zeit erneuert werden müssen, etwa die Ventile oder die Mühlen, die die Kohle zu Staub zerkleinern.
Wie ein riesiger Organismus
Wie ein riesiger Organismus
Zehn Prozent Stillstand
Hat das System einen Fehler erkannt, blinkt ein roter Punkt auf. Wenn nötig, wird ein Maschinist zu der Stelle geschickt, um das Problem zu beheben. Von Störungen spricht Rosin nicht so gern, er nennt es lieber „ungeplanten Reparaturbedarf“. Manchmal gibt eine Pumpe oder ein Motor den Geist auf oder das Getriebe eines Förderbands geht kaputt. „Sowas kommt vor.“
Wie zum Beweis blinkt jetzt ein Lämpchen rot auf und das Wort „Störung“ erscheint auf dem Bildschirm. Doch das Problem an einem Taktventil verschwindet binnen Sekunden von selbst. „Die beiden Blöcke sind wie ein riesiger Organismus“, sagt einer der Mitarbeiter, der die Prozesse hier überwacht. Das Verrückte ist: „Obwohl beide baugleich sind, verhalten sie sich manchmal unterschiedlich: Der eine ist träge, der andere wie eine Mimose.“
Zu 90 Prozent laufe das Werk fehlerfrei, so Rosin. Unter den zehn Prozent an Stillständen seien auch die geplanten Revisionen.
Einmal pro Jahr wird jeder Block abgeschaltet und Verschleißteile
repariert. Dann gibt es seltene Einblicke in das Innenleben der Turbinen
und der 174 Meter hohen Kühltürme.
Blick bis zum Fichtelberg
Blick bis zum Fichtelberg
Auf der "Kanzlerplattform"
Den besten Blick auf die beiden Kolosse hat man von der Aussichtsterrasse in 163 Metern Höhe. Bei gutem Wetter sieht man von hier oben sogar den 92 Kilometer entfernten Fichtelberg. „Das ist unsere Kanzlerplattform“, scherzt Lutz Dornberg.
Am 22. Juni 2000 eröffnete der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder das Kraftwerk persönlich. Damals gehörte es zu den technisch neuesten Anlagen seiner Zeit. „Wenn man hier oben steht, merkt man erstmal, wie groß das Gelände ist“, sagt Christian Rosin. Selbst für ihn sei das noch immer „faszinierend“.
Der Besucher blickt hinunter auf die Bagger im Tagebau. „Das vordere ist das Abbaufeld Peres, das gerade neu aufgemacht wird und für die nächsten 15 Jahre einen Großteil der Kohle liefert“, sagt Rosin. Dahinter erstreckt sich das Abbaufeld Schleenhain, das so langsam „ausgekohlt“ sei. Sprich: Die Vorräte an dem Rohstoff gehen zur Neige, das Areal wird bald mit Abraum verfüllt, der bei dem neuen Tagebau anfällt.
Die beiden Kühltürme sind hier oben ganz nah, bester Blick auf die Wolkenfabrik, wie das Kraftwerk im Volksmund genannt wird.
An den Turbinen erwärmt sich das Kühlwasser auf 26 Grad, erklärt Dornberg. Unterirdisch wird es zu den Kühltürmen gepumpt, in der Mitte nach oben gedrückt und in 15 Metern Höhe „verrieselt“, also zu einem feinen Sprühnebel gemacht. Durch die angesaugte Luft kühlt sich das Wasser auf 16 Grad ab.
In den aufsteigenden Nebel werden in 40 Metern Höhe die gereinigten Abgase eingeleitet. „Genaugenommen ist es kein Dampf, es sind mikroskopisch kleine Wassertröpfchen“, sagt Dornberg. Nur ein minimaler Teil entweicht über die Türme nach außen, betont er.
Von oben rauscht das Wasser hinunter in das 120 Meter breite Auffangbecken und wird von da aus ins Werk zurückgeleitet. Karpfen fühlen sich hier unten wohl und helfen dabei, die Algen im Becken zu bekämpfen.
Gas statt Kohle?
Gas statt Kohle?
Nur so viel Strom abgeben, wie benötigt wird
Letzter Stopp der Tour: das Umspannwerk. Der Elektrosmog knistert, die Krähen stört das nicht. Sie haben sich auf einer der Leitungen ein Nest gebaut. Hier wird der Strom zunächst auf 400.000 Volt hochtransformiert und so ins Hochspannungsnetz eingespeist. Später wird der Strom wieder heruntertransformiert und kann aus der hauseigenen Steckdose gezapft werden. „Die große Kunst ist es, das Kraftwerk so zu fahren, dass immer genau soviel Strom ins Netz eingespeist wird, wie die Verbraucher entnehmen“, sagt Dornberg. An die Schwankungen müsse man sich ständig anpassen.
Christian Rosin ist überzeugt, dass „Wind und Sonnenenergie nicht ausreichen, um den Energiebedarf der Zukunft zu decken. „Die Kohle wird für die nächsten 20, 30 Jahre noch gebraucht“, glaubt er. Auf 40 bis 50 Jahre wird die Lebensdauer eines Kohlekraftwerks geschätzt. Bevor er in Rente geht, würde der Chef seinem Nachfolger gern eine neue Anlage übergeben. Es muss keine sein, in der Braunkohle verfeuert wird. Vielleicht ist es ein Gaskraftwerk oder etwas ganz anderes. Rosin ist offen für neue Technologien. „Wenn wir 2050 emissionsfrei sein wollen, ist allerdings noch viel zu tun.“
Dreckschleuder Kohlekraftwerk?
Dreckschleuder Kohlekraftwerk?
Elf Millionen Tonnen Kohlendioxid
Die Abgase, die bei der Verbrennung der Kohle entstehen, sind die Hauptkritikpunkte der Umweltschützer. „Braunkohlekraftwerke zählen zu Deutschlands größten Dreckschleudern“, sagt Erik Butter, 19 Jahre alt, Kohle-Experte von Greenpeace Leipzig. Auf einer Liste der gesundheitsschädlichsten Kohlekraftwerke Deutschlands rangiert Lippendorf derzeit auf Platz 3.
Neben Schwefeloxid, Stickoxiden, Kohlenmonoxid und Feinstaub bläst die Anlage vor allem große Mengen des klimaschädlichen Kohlendioxids (Co2 ) in die Luft. elf Millionen Tonnen waren es 2016. „Das Kraftwerk ist eines der größten Co2-Verursacher in Europa“, kritisiert Butter. Der Chemiestudent gibt zu, dass der Ausstoß in den vergangenen Jahren weniger geworden sei, weil das Kraftwerk nicht mehr ständig unter Volllast laufe. Trotzdem habe diese Menge noch immer verheerende Folgen für den Klimawandel und trage bei, „dass sich die Lebensbedingungen auf der Erde drastisch verschlechtern“.
Werksleiter Christian Rosin entgegnet, dass die Kohlendioxid-Emissionen durch einen hohen Wirkungsgrad der Turbinen niedrig gehalten werden. Mit einem Wirkungsgrad von 49 Prozent gehöre Lippendorf „zur Weltspitze“, ergänzt Ingenieur Lutz Dornberg. Außerdem erfülle die Anlage alle bestehenden Umweltauflagen. Auch die Bildung von Stickoxiden werde wirksam unterdrückt, Schwefeldioxid chemisch in Gips gebunden. Naturschützer sind dennoch überzeugt: „Selbst mit den besten verfügbaren Technologien bleibt Kohle schmutzig.“
Noch schlimmer seien zudem Schwermetalle wie Arsen, Kupfer, Nickel und Quecksilber, die über die Kühltürme nach außen gelangen. Die Süddeutsche Zeitung fand vor zwei Jahren heraus, dass Lippendorf mit 410 Kilogramm fast ein Zehntel der bundesweiten Emissionen an Quecksilber aus Kohlekraftwerken ausstößt. „Quecksilber kann sich im Körper anreichern und schädigt das menschliche Nervensystem schon in geringen Dosen“, so Erik Butter.
Greenpeace fordert einen konkreten Zeitplan für den Kohleausstieg und eine schnelles Ende der „landschaftszerstörenden Energieform“. Butter ist sich sicher, dass es genügend Alternativen zur Kohle gebe. Man müsse nur die Energienetze besser verknüpfen und und bessere Speichersysteme entwickeln.
Ingenieur Dornberg versteht die Kritik an der Braunkohle zum Teil, denn damit seien „immer Einschnitte in die Landschaft“ verbunden. Doch Sonne und Wind stünden nur einen kleinen Teil des Jahres zur Verfügung. „Irgendwo muss der Strom das ganze Jahr über herkommen. Da haben wir keine Alternativen, wir werden mit der Kohle leben müssen.“
Fotos und Videodreh: Dirk Knofe, LEAG, dpa
Schnitt: Felix Ammenn (Leipzig Fernsehen)
Drohnenflug und Animation: Patrick Moye
Texte, Video-Interviews, Produktion: Gina Apitz
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