Mein Viertel Ruhe und Trubel im Waldstraßenviertel Hohe Baukunst, Naturidylle und geschäftiges Treiben zwischen Waldplatz, Mückenschlösschen und Rosental
Auf Streifzug durch den Kiez: In der Serie "Mein Viertel" führen Leipziger durch ihren Stadtteil, zeigen Lieblingsplätze und Schandflecken. In Teil 8 spaziert Matthias Klöppel durch sein Waldstraßenviertel.
Schattiges Fleckchen am Waldplatz
Schattiges Fleckchen am Waldplatz
Ein heißer Spätnachmittag. Die Die Sonne strahlt vom Himmel. Gut, dass mir das kleine Baum-Ensemble am Waldplatz kühlenden Schatten spendet. Die dreieckige Grünanlage dient mir als Startpunkt für meine Tour durch das Waldstraßenviertel. Ich lasse den Blick schweifen. Der „Tänzerin“-Brunnen plätschert vor sich hin. Auf der Jahnallee das übliche Verkehrsgewimmel. Wo früher das „Täubners Restaurant“ stand, dröhnen Maschinen. Bald schießt dort die „Residenz am Waldplatz“, ein neues Wohnhaus, in die Höhe.
Wenige Meter weiter lächelt mich das Tamers Bistro an. Mein Favorit unter Leipzigs Dönerläden bietet den türkischen Fastfood-Klassiker im XXL-Format. Ein Big-Döner, der diese Bezeichnung verdient, „mit eigens gebackenem Fladenbrot“, wie der Verkäufer freundlich versichert. Die sechs Euro zahle ich gern. Anstehen musste ich diesmal nicht. Zu Stoßzeiten schlängeln sich die Kunden oft bis auf den Fußweg. Das kleine, aber feine Lokal ist ein Beispiel für die zahlreichen Geschäfte, Cafés und Firmen, die sich rund um den Waldplatz und entlang der Waldstraße angesiedelt haben.
Lesen mit anderen Sinnen
Neben Gastronomie und Shopping-Angeboten finden sich auch einzigartige Einrichtungen wie die Deutsche Zentralbücherei für Blinde (DZB) in der Gustav-Adolf-Straße. Die 1894 gegründete Spezialbibliothek macht blinden und sehbehinderten Menschen Literatur zugänglich.
Brailleschrift und Hörbücher
Brailleschrift und Hörbücher
Bei einem kleinen Rundgang wird deutlich: In der Bücherei wird in erster Linie
produziert. Texte werden in Brailleschrift übertragen, Hörbücher
aufgenommen, Bilder als Relief dargestellt. Drucken, Stanzen, Pressen,
Lackieren und Modellieren sind typische Handwerkstechniken im Haus.
Direktor Thomas Kahlisch (55) betont: „Wir haben 65.000 Titel. Fast alle
sind Unikate.“ Die Themen sind breit gefächert. Vom Schulbuch bis zum
Kamasutra-Band ist alles barrierefrei. Was mich überrascht: Es fehlt ein
großer Lesesaal. Stattdessen wird die Literatur ausgeliehen oder
verkauft – auf Wunsch sogar zu den Nutzern nach Hause verschickt.
Seit mehr als 60 Jahren befindet sich die DZB an ihrem derzeitigen
Standort. Früher war in dem Gebäude die Höhere Israelitische Schule
beheimatet – ein Hinweis auf die reiche jüdische Vergangenheit des
Waldstraßenviertels.
Jüdische Vergangenheit
Vorwiegend aus Osteuropa stammende Juden waren es, die sich im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ansiedelten, „weil sie es in der Kernstadt nicht durften“, weiß Julia Merzogitova.
Die 54-Jährige ist Mitarbeiterin im Ariowitsch-Haus in der Hinrichsenstraße. Das Begegnungszentrum dient vor allem der Verständigung zwischen Menschen verschiedener Kulturen und Religionen.
„Natürlich“, unterstreicht Merzogitova,
„
haben die jüdischen Bewohner das Leben im Viertel wesentlich geprägt“. Mit ihrer Verfolgung im Dritten Reich fand dies jedoch ein jähes Ende. Heute, erzählt sie mir, sind nur noch drei jüdische Familien ansässig.
Flanieren auf der Waldstraße
Flanieren auf der Waldstraße
Auf der Waldstraße zeigt sich, wie lebendig das nordwestlich der Innenstadt gelegene Wohngebiet ist. Beim Flanieren über die namensgebende Allee kommen mir zahlreiche Spaziergänger mit Eistüte in der Hand entgegen. „Die haben wir von der Eisdiele mit der roten Markise“, sagt eine junge Mutter im Vorbeigehen.
Sie meint den Laden von Eugen Hendrich. Der residiert seit 2006 auf der Waldstraße und bietet hausgemachtes Softeis in täglich wechselnden Variationen. Vor dem Geschäft herrscht Trubel – wie immer an sonnigen Tagen. Ich sehe kleine Leckermäulchen, die vergnügt herumtollen, Eltern, die an quietschgrünen Tischen sitzen und sich unterhalten.
Auf der gegenüberliegenden Straßenseite treffe ich Christiane Gerber in ihrem Laden Liseleje. Die 45-Jährige verkauft dänische Wohnaccessoires, zudem Tee und bunte Grafiken. Warum die Lokalität auf der Waldstraße? „Das ist ein guter Standort und man kann hier wunderbar wohnen“, meint die gelernte Schaufensterdekorateurin, die selbst Anwohnerin ist.
Dass in dem Viertel zu wenig los sei, wie viele behaupten würden, störe sie nicht. „Ich genieße die Ruhe“, so die gebürtige Leipzigerin – sofern keine Veranstaltung im Stadion oder der Arena stattfindet. „Dann wird es laut. Und alles ist abgeriegelt.“ Das erschwere die ohnehin problematische Parksituation, sagt Gerber. Zudem gelangten Kunden von außerhalb in dieser Zeit nicht mehr zu ihr.
Mückenschlösschen
An der Brücke über den Elstermühlgraben endet meine Tour. Zum Abschluss gönne ich mir ein kühles Blondes im Biergarten des Mückenschlösschens. Auf dem Freisitz wähnt man sich leicht in ländlichen Gefilden. Und so denke ich an die kleinen Blutsauger, die der Legende nach einst auf dem Gelände das Pferd von August dem Starken derart attackiert haben sollen, dass dieser vom Selbigen fiel.
Hätten Sie's gedacht?
- Im Waldstraßenviertel leben über 10.500 Menschen auf einer Fläche von rund 550 Fußballfeldern.
- Das Durchschnittsalter beträgt 38,1 Jahre, die Jugendquote knapp 27 Prozent.
- Auf 1000 Einwohner kommen 316 Autos.
- 174 Menschen im Viertel haben keine Arbeit, 13,6 Prozent einen Migrationshintergrund.
- Bei der Bundestagswahl 2017 bescherten die Einwohner den Grünen 15,9 Prozent, der SPD 13,1 Prozent, der CDU 25,4 Prozent, der FDP 13,4 Prozent, der AfD 9,9 Prozent und den Linken 16,9 Prozent.
- Im Jahr 2016 gab es fast 1400 registrierte Straftaten im Viertel, darunter rund 1000 Diebstähle.
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