Die Maschinenfabrik Swiderski Leipzigs verlassene Orte im Wandel
Halb verrottet und mit Pflanzen bewachsen oder im Umbau – viele ehemalige Industrieanlagen in Leipzig sind dem Verfall preisgegeben, in anderen zieht neues Leben ein. In einer sechsteiligen Serie begeben wir uns auf einen Streifzug durch die letzten „Lost Places“ der Stadt, zeigen aber auch, was man aus den alten Gebäuden so alles machen kann. Mit einem Leipziger Fotografen geht es in die alte Fabrik von Philipp Swiderski in Kleinzschocher.
Die Fabrik von Philipp Swiderski liegt in Leipzig-Kleinzschocher.
Der Einstieg
Einfach ist der Zugang nicht, doch die langen Beine helfen Birk Poßecker. Beinahe mühelos krabbelt er über ein offenes Fenster hinein in die ehemalige Fabrik von Philipp Swiderski in Kleinzschocher. Nach wenigen Sekunden hat sich der 30-Jährige Zutritt verschafft zu den verlassenen Werkshallen – um sie abzulichten.
Birk Poßecker ist freier Fotograf und Filmemacher. Er trägt einen grünen Parka, Vollbart und die Haare zum Dutt gebunden. Äußerlich könnte man ihn jener Generation hipper, junger Menschen zuordnen, die derzeit nach Leipzig kommen. Poßecker aber ist kein Zugezogener, er stammt aus der Messestadt und er liebt ihre verborgenen Ecken, vor allem ihre Industrieruinen. In der dunklen Halle ist das gleichmäßige Tapsen seiner Schritte zu hören ist. Unter seinen Füßen knarzen Glasscherben und Plastikmüll.
Poßecker öffnet seinen Rucksack und holt seine Spiegelreflexkamera heraus, mit der er den Zustand der Industrieruine „archivieren“ will, wie er sagt. Er ist das erste Mal in der alten Maschinenfabrik. „Am Anfang weiß ich nie, was mich erwartet.“ Poßecker informiert sich im Vorfeld meistens nicht darüber, welchen Zweck das Gebäude ursprünglich hatte. „Ich lasse mich gern überraschen.“ Er setzt dann auf seine Fantasie, überlegt, was hier wohl mal produziert wurde, wie die Menschen gearbeitet haben.
Im „Entdeckermodus“
Im „Entdeckermodus“
Solche verlassenen Orte findet der Fotograf, wenn er mit dem Fahrrad durch Leipzig kurvt. Entdeckt er ein Objekt, setzt er eine Markierung bei Google Maps. 15 bis 20 Gebäude hat er bisher schon erkundet, schätzt Poßecker. Wenn er sich ein neues Gebäude vornimmt, läuft er zunächst einmal um das gesamte Objekt herum, um sich einen Überblick zu verschaffen. Dann sucht er einen Weg hinein, klettert dabei auch gern ein bisschen. „Ich bin dann in einem Entdeckermodus.“
Als Bergsteiger sind Höhen für ihn kein Problem, einmal musste er einen fünf Meter hohen Baum erklimmen, um in ein Haus hineinzugelangen. Auch vor Dächern von Industriebauten schreckt der Filmemacher nicht zurück. „Da hat man nochmal eine ganz andere Perspektive“, sagt er. Dass seine Entdeckertouren mitunter gefährlich sind, weiß Poßecker, besonders wenn er allein in baufälligen Fabriken unterwegs ist. „Ein bisschen Risiko ist dabei.“ Einen Unfall hatte er bisher nicht. Und außerdem: „Wenn ich bergsteige, kann es mir genauso passieren, dass ich abrutsche oder mich von oben ein Stein trifft.“
Die Gefahr
Der Fotograf über die Faszination für solche Ruinen und die Gefahren, denen er sich bei seinen Entdeckungstouren aussetzt.
Die Werkshalle
Die Werkshalle
Birk Poßecker nimmt jetzt die Halle genauer ins Visier. Sein Blick durchforstet den Raum auf der Suche nach einem Fotomotiv, die Kamera klickt immer wieder, dann läuft der Fotograf weiter, tritt in eine lichtdurchflutete Halle mit einem Spitzdach aus Glas. Rings um ihn herum liegen Ziegelsteine und zertretene Türen, die Wände sind mit bunten Graffitis besprüht.
Poßecker fotografiert die Halle, die in ein sanftes, warmes Licht getaucht ist. Weitwinkel-Perspektiven. Detailaufnahmen. Wer in den Blogs der Lost-Places-Szene oder auf Instagram sucht, wird ähnliche Motive finden. Die alte Werkshalle wurde schon oft fotografiert, ist auch in Musikvideos zu sehen. Dass schon viele andere vor ihm da waren, stört den Fotografen nicht. „Es geht um meinen Blick auf das Gebäude.“ Und er ist sich sicher, dass seine Fotos „mit der Zeit eine ganz andere Wertigkeit kriegen, weil die Motive vergänglich sind“.
Poßecker archiviert seine Aufnahmen nicht nur,
eine Auswahl zeigt er auch auf seinem eigenen Blog http://mylpz.tumblr.com/
Die Fotos
Birk Poßecker erklärt, worauf er beim Fotografieren in den Industrie-Ruinen achtet.
Die Jahreszeiten
Es kommt auch vor, dass der Fotograf eine Fabrik zweimal besucht. „Man entdeckt dann noch Neues, sieht Wege, die man vorher nicht beachtet hat.“ Auch der Wechsel der Jahreszeiten sei spannend. „Im Winter schneit es oft in die Hallen hinein, im Sommer hast du Pflanzen, die dem Licht entgegen wachsen. Das sieht toll aus.“
Ein großer Spielplatz
Ein großer Spielplatz
Verlassene Orte haben Poßecker schon als Kind fasziniert. Er wächst in Leipzig nahe eines alten Bauernhofs auf. „Das war ein großer Spielplatz“, sagt er heute. Als Jugendlicher kriecht er in alten Industrieanlagen herum, damals noch ohne Fotoapparat, und manchmal auch nachts – als Mutprobe.
Nach Abitur und Zivildienst lässt er sich in Wiesbaden zum Mediengestalter für Bild und Ton ausbilden, studiert anschließend in Mainz und geht dann für ein Jahr ins kanadische Vancouver, um Filme zu drehen. Doch schließlich zieht es ihn zurück nach Leipzig, in die Stadt, in der man besonders einfach in alte Industriebauten hinein kommt, wie er sagt.
Kein Wunder also, das Poßecker oft andere Menschen dort trifft, meistens Neugierige wie ihn, manchmal Obdachlose, die in den Fabriken übernachten. Wenn er Besuch aus anderen Städten bekommt, nimmt er seine Freunde auch mal mit in solche verlassenen Gebäude, falls sie darauf Lust haben. Wenn er reist, schaut er auch immer, ob er vor Ort eine interessante Ruine entdecken kann.
Der Glücksfall
Der Glücksfall
Ein Glücksfall wäre ein Gebäude, das jahrelang praktisch unberührt in einer Art Dornröschenschlaf vor sich hindämmert. Poßecker stellt sich dann vor, wie es wäre, das Haus als erster zu erkunden. Manchmal findet er auf seinen Streifzügen alte Dokumente, zum Beispiel Rechnungen aus DDR-Zeiten. Es sei aber selten etwas Spannendes dabei, das er mitnimmt. Doch seine Suche nach den „Lost Places“ wird schwieriger. „Viele Gebäude werden jetzt ausgebaut“, hat Poßecker bemerkt. Im alten Postbahnhof, der gerade saniert wird, wurde er neulich vom Wachdienst herausgeworfen.
Der Fotograf läuft jetzt eine Treppe hinauf, steht nun im Obergeschoss der Fabrik. Gute Fotomotive. Wenn man ihn fragt, was man aus dem Industriebau machen könnte, sagt er: „Vor allem nicht abreißen. Das fände ich schon sehr schade“. Er würde es gut finden, wenn von der neuen Nutzung viele Menschen profitieren. „Ein Technoclub wäre vielleicht die einfachste Lösung“, sagt er. „Da müsste man nicht viel machen, außer das Dach neu decken.“
Neue Ideen
Birk Poßecker über seine Idee für eine neue Nutzung der alten Fabrik.
Die Sackgasse
Weiter geht die Entdeckungstour, den größten Teil des Areals hat Poßecker mittlerweile durchforstet. Eine Treppe führt hinauf in das markante Türmchen der Maschinenfabrik, das einer Ritterburg ähnelt. Er versucht, bis nach oben zu gelangen. Erfolglos. Manchmal endet auch für den Fotografen der Weg in einer Sackgasse.
Die Geschichte der Fabrik
Der Firmengründer Otto Ludwig Philipp Swiderski wird 1836 in Marienburg geboren, studiert unter anderem in Berlin, Karlsruhe und Essen.
Im September 1867 kommt er nach Leipzig, um sich hier mit einer Werkstatt selbständig zu machen. Die erste Fabrik des Unternehmers befindet sich in der Reudnitzer Straße. Sein Wappen
lässt sich
Swiderski in Granit gemeißelt über die Eingangstür seiner zweiten Fabrik hängen.
Die Druckerpresse
Der spätere Fabrikant Philipp Swiderski gehört dem deutschen Vorbereitungsteam der Weltausstellung in Paris 1867 an und lernt so den internationalen Stand des Maschinenbaus kennen, wie dieses Zitat zeigt.
Die neue Fabrik Das Fabrikgebäude mit dem 20 Meter hohen zinnengekrönten Turm ist der Kopfbau einer Galeriehalle, die damals als sehr zweckmäßig gilt und mehrfach kopiert wird.
Die neue Fabrik Das Fabrikgebäude mit dem 20 Meter hohen zinnengekrönten Turm ist der Kopfbau einer Galeriehalle, die damals als sehr zweckmäßig gilt und mehrfach kopiert wird.
1888 verlagert Swiderski den Standort seiner Firma von der Reudnitzer Straße nach Kleinzschocher, wo
er mehr Platz zur Verfügung hat. Außerdem ist die Lage strategisch
günstig: Es gibt eine pferdebetriebene Straßenbahn, einen
Eisenbahnanschluss und einen Kanal.
Auf einer Fläche von 15 000 Quadratmeter lässt Swiderski die neue Fabrik errichten. Die Weitläufigkeit ermöglicht eine sehr zweckmäßige Gestaltung der Gebäude, die seinerzeit als „Musteranstalt” betrachtet wird und sich vom Stil her an der Gotik, aber auch an der englischen Architektur der Tudorzeit orientiert. Der Architekt Eduard Steyer baut nicht nur eine 110 Meter lange und 20 Meter breite Montagehalle, sondern auch ein Kesselhaus nebst Schornstein, ein Pissoir, ein Portiershaus, einen Koksschuppen und eine Schmiede. Direkt an der Zschocherschen Straße befindet sich damals vorgelagert das Kontor, das Büros beherbergt und mit seiner aufwendig gestalteten Turmfassade für den Betrieb werben soll.
In den Hallen arbeiten anfangs 148 Menschen, das Werk ist allerdings für bis zu 700 Arbeiter ausgelegt.
Der Kunstgriff
Der Kunstgriff
1892 wird parallel zu der Montagehalle ein gleichlanges Lagergebäude
errichtet, das einen besonderen Kunstgriff ermöglicht. Fünf Jahre später
wird die freie Fläche zwischen den beiden Hallen nämlich einfach mit
einer Stahl- und Glaskonstruktion überdacht, so dass eine dritte Halle
entsteht.
Für diesen Trick ist der Architekt Paul Ranft verantwortlich.
Dadurch hat man mit einfachen Mitteln und geringen Kosten einen weiteren
Produktionsraum geschaffen. Unter Swiderski werden dort Dampfmaschinen,
Petroleum- und Gasmotoren produziert. 1892 arbeiten 300 Menschen in der
Fabrik. 1906 stirbt Philipp Siwderski, 1916 geht die Fabrik in den
Besitz der Industriewerke GmbH über.
Das Zeugnis
Während des Ersten Weltkriegs wurden in der Fabrik Arbeiter entlassen, auch die Stenografistin Helene Preuß traf dieses Schicksal, wie ihr Arbeitszeugnis verrät.
Die Swiderski-Villa
Die Villa von Philipp Swiderski wird von dem Leipziger Architekten Arwed Roßbach errichtet. Später bewohnt auch Hans Heinrich Reclam (1840–1920) die Villa. Das Haus wird in den 1960er Jahren abgerissen.
Ab 1921 stellt der neue Fabrikchef Friedrich Georg Spieß die Produktion
komplett auf Druckereimaschinen um und lässt die Anlagen fortan
elektrisch betreiben.
Während des Zweiten Weltkriegs werden etwa 70 Prozent der Gebäude durch Bomben schwer beschädigt, auch das Archiv der Firma geht dabei in Flammen auf. Nach Kriegsende 1945 beginnt der Wiederaufbau des Werks.
1960 gliedert die Regierung der DDR die Fabrik in den Volkseigenen Betrieb Druckmaschinenwerke Leipzig ein. Gerüchteweise sollen auch noch Autoteile für den Wartburg in der Fabrik hergestellt worden sein. Nach der Wiedervereinigung wird das Gelände von der Treuhand verwaltet und Mitte der 1990er Jahre an den Münchner Investor Manfred Rübesam verkauft. Die Fabrik steht viele Jahre lang her. Nach Aussage der Stadt Leipzig soll das Areal demnächst zu einer Schule umgebaut werden.
Texte und Video-Interviews: Gina Apitz
Fotos und Videodreh: Regina Katzer, Dirk Knofe, Birk Poßecker
Drohnenaufnahmen: Birk Poßecker
Schnitt: Leipzig Fernsehen
Konzept, Produktion: Gina Apitz
Quellen: Leipziger Geschichtsverein, Julia Susann Buhl "Studie zur Industriearchitektur in Leipzig Plagwitz 1870 bis 1914 am Beispiel ausgewählter Bauten", Sächsisches Wirtschaftsarchiv
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