Vom Drogenkiez zum Künstlertreff Die Leipziger Eisenbahnstraße verändert sich
Zu DDR-Zeiten war sie die Heimat der Arbeiterschicht, nach der Wende das Viertel der Migranten und später Schauplatz schwerer Straftaten. Ihr einstiger Glanz als große Einkaufsstraße im Osten der Stadt verblasste.
Doch seit einigen Jahren erlebt der Kiez eine Renaissance: In das Viertel mit dem schlechten Ruf und den billigen Mieten ziehen Studenten und Künstler; jahrzehntelang brachliegende Gründerzeithäuser werden saniert und Läden eröffnet – die Grundstückspreise steigen. Wird die Eisenbahnstraße zu einem zweiten Plagwitz?
Die gefährlichste Straße Deutschlands?
Die gefährlichste Straße Deutschlands?
Viel ist über die Eisenbahnstraße geschrieben, gesprochen und diskutiert worden: Die 2,2 Kilometer werden von den Leipzigern „Klein-Istanbul” genannt. Die Medien gaben ihr Namen wie „Gefährlichste Straße Deutschlands“ (taff), „Schiefe Bahn“ (Die Zeit), „Ferner Osten“ (Süddeutsche) oder „Die kriminellsten 1,5 Kilometer Deutschlands“ (Focus).
Fest steht: Die Eisenbahnstraße bekommt neue Facetten und hat noch immer ihre alten Schattenseiten. Warum wird die Straße immer wieder zum Tatort? Wie sehen die Bewohner ihr Umfeld? Wie erleben sie die Veränderung des Quartiers? Wir haben uns auf der Straße umgehört, lassen Inhaber der internationalen Läden zu Wort kommen, alteingesessene Anwohner, Stadtteilforscher und die Polizei – und zeigen verschiedene Blickwinkel auf den Multikulti-Kiez.
Das Viertel rund um die Eisenbahnstraße im Vergleich zu Gohlis Süd, wo in etwa gleich viele Menschen leben.
„Die haben hier sauber gemacht“ Ali Fatih ist Chef eines Dönerladens auf der Eisenbahnstraße. Er findet, sein Viertel habe sich positiv entwickelt.
Der Dönerspieß dreht sich langsam um die eigene Achse, in der Auslage stapeln sich Salat, Tomaten und Zwiebeln – die gemeinsam mit den Fleischbatzen im Fladenbrot landen. An diesem Nachmittag warten viele Hungrige auf ihren Kebab. Hinterm Verkaufstresen steht Ali Fathi, ein quirliger Typ mit lautem Organ, der nach eigener Aussage sieben Sprachen spricht. Der Chef des Imbiss „Haci Baba“ hat nur wenig Zeit. Das Geschäft ruft.
Der älteste Dönermann auf der Eisenbahnstraße
Der älteste Dönermann auf der Eisenbahnstraße
„Ich bin der älteste Dönermann auf der Straße“, sagt der 39-Jährige voller Stolz. 1999 flüchtete Fatih aus dem Irak nach Deutschland, arbeitete erst in einem anderen Bistro auf der Eisenbahnstraße und übernahm 2006 den Dönerladen direkt an der Haltestelle Herrmann-Liebmann-Straße. Dort verkauft er nun „original türkischen Döner“, ein „Platz für die ganze Familie“, wirbt das Lokal.
In den Neunzigern, sagt Fatih, sei es hier noch anders gewesen. „In jeder Ecke lag ein Junkie und hat sich etwas gespritzt.“ Die Eisenbahnstraße sei praktisch leer gewesen, kaum jemand wohnte in den alten Häusern. „Jetzt läuft Gott sei Dank alles gut“, so der Ladenchef. „Es ist wunderbar.“ Früher habe es hier 30, 40 Dealer gegeben. Heute seien gerade mal drei, vier von ihnen übrig geblieben. Das liege auch an der verstärkten Polizeipräsenz, findet Fathi. „Die haben hier richtig sauber gemacht.“
Dass an einigen Ecken noch immer Drogen vertickt werden, stört den Dönerladenchef nicht so sehr. Er findet, es gehöre zur Freiheit in Deutschland dazu, dass man sich auf der Eisenbahnstraße zum Beispiel problemlos Gras besorgen könne. „Das ist normal für diese Straße, das muss auch sein.“
„Schutzgeld mussten wir noch keins bezahlen“ Manuel Schneidewind und Christian Bär haben in der Eisenbahnstraße die Galerie „Bistro 21“ eröffnet
Es ist Herbst geworden im Leipziger Osten. Erste Laubblätter wehen durch die geöffnete Tür in die Kunstgalerie „Bistro 21“. Seit zwei Jahren gibt es sie dort, wo sich Eisenbahn- und Hermann-Liebmann-Straße kreuzen. Inhaber sind die HGB-Meisterschüler Manuel Schneidewind und Christian Bär. Der erste Leipziger, der zweite gebürtiger Stuttgarter, haben sich während des Studiums an der Hochschule für Grafik und Buchkunst kennengelernt. Sie kommen etwas später zum vereinbarten Termin – Künstler eben.
Beide haben es nicht darauf angelegt, unbedingt in diesem Teil der Stadt ihre Galerie zu eröffnen. Es ging ihnen vorwiegend um bezahlbaren und geeigneten Raum, den fanden sie in Neustadt-Neuschönefeld. Nicht von ungefähr beschreibt Schneidewind die Galerie und den ganzen Stadtteil als „roh und ausbaufähig“. Das Bistro 21 war, bevor es zum Kunstraum wurde, eine Bäckerei und später ein Dönerladen. Von letzterem hat es seinen Namen.
Viel mehr ist davon nicht geblieben. Sichtbar sind nur noch einige Fliesen im Fensterbereich und das schwer zu ignorierende Werbeschild über der Eingangstür. Der Innenraum wirkt steril: weiße Wände, grauer Holzfußboden. Zwei durch eine Wand getrennte Räume bieten Platz für Ausstellungen.
Zu ihren Ausstellern finden Bär und Schneidewind über private Kontakte. Dass es die Galerie gibt, habe sich inzwischen „rumgesprochen“. Das Interesse ist groß. „Ich muss sogar einigen absagen“, erzählt Bär. Auch wenn alles noch ungeschliffen wirkt, vermittelt es den Eindruck: Hier ist etwas entstanden, das den Stadtteil belebt. „Das Potenzial ist noch nicht ausgeschöpft“, sagt Schneidewind. Es müsse sich nur jemand finden, der Geld, Zeit und Willen in den Kiez steckt.
„Das Viertel ist ziemlich einzigartig“, findet Schneidewind. „Das Internationale Flair, diese Mischung ist nirgendwo anders in Leipzig so wiederzufinden.“ Der 29-Jährige wohnt nicht nur im Viertel, sondern sogar im selben Haus. Auch sein Atelier hat er über der Galerie. Durch seinen Vermieter ist er darauf aufmerksam geworden, dass die Ladenräume im Erdgeschoss zur Verfügung stehen.
Nach dem Diplom ist der Einstieg auf dem Kunstmarkt schwierig, sagen die beiden Maler. Absolventen müssten sich gegen Künstler durchsetzen, die schon Jahrzehnte im Geschäft sind. „Eine Galerie will jeder Künstler haben“, sagt Schneidewind.
Allein davon leben können sie nicht. Ihren Unterhalt finanzieren sie über Nebenjobs. Für beide ist es wichtig, dass es in Leipzig auch Ausstellungsräume neben den etablierten Lokalitäten wie der Spinnerei gibt. Das Bistro 21 soll daher auch weniger bekannten Künstlern die Gelegenheiten bieten sich auszutauschen, im Gespräch zu bleiben und über die ausgestellten Arbeiten zu diskutieren. Kommen könne jeder – auch nur zum Bier trinken.
Viele, die das Angebot wahrnehmen, leben in anderen Stadtteilen und besuchen die Eisenbahnstraße nur für die Ausstellungen. Fördernd dafür sei die gute Anbindung des Viertels, meint Christian Bär, der in Lindenau wohnt. Vor der Galerie halten mehrere Straßenbahnenlinien. Anwohner interessierten sich dagegen eher zögerlich für den Kunstraum. Nur wenige verirren sich in die Galerie.
Dabei erzeugt sie Aufmerksamkeit, besonders wenn es Nacht wird. Die weißen Leuchtröhren lassen den Raum hervorstechen, strahlen bis weit in die Kreuzung. Je später es wird, umso mehr Besucher tummeln sich vor der Hausnummer 88, nehmen die komplette Breite des Bürgersteiges ein und führen Vorbeigehende wie ein Trichter zur Eingangstür der Galerie.
„Wenn etwas passiert, ist die Polizei schneller da.“
Vor dem Supermarkt von Sherko Jebari herrscht Gewusel. Seine Mitarbeiter haben heute zusätzlich draußen Stände aufgebaut, verkaufen Tomaten, Gurken und Ananas an die Kunden. Es wird gefeilscht, während die Straßenbahn vorbeidonnert, sich Autos träge durch den Verkehr schieben.
Mittendrin steht gelassen Ladenchef Jebari, 35 Jahre alt, Vater von zwei Töchtern, der 1996 mit seinen Eltern aus dem Nordirak in die Niederlande flüchetete. Jebari ist Kurde. 2001 kam er nach Leipzig, weil einer seiner vier Brüder hier einen Lebensmitteladen betrieb. „Ich wollte ihn untersützen und bin dann hier geblieben“, erzählt er mit ruhiger Stimme.
In den letzten 16 Jahren bemerkte Jebari, wie sich das Viertel um ihn herum veränderte. Früher sei die Straße leerer gewesen, sagt der Händler. „Seit zwei Jahren sind viele Leute aus Syrien und Irak gekommen.“ Viele sprechen anfangs kein Deutsch, in der Eisenbahnstraße treffen sie auf ihre Landsleute. Jebari hilft den Neuankömmlingen beim Übersetzen. Auch seine Kundschaft habe sich dadurch verändert: „Früher haben wir mehr deutsche Kunden gehabt, jetzt sind die ausländischen Kunden mehr geworden.“
Dass im Viertel viel geklaut wird, hat er schon selbst erlebt. Einige Male wurde in seinen Laden eingebrochen, erzählt er. Das sei aber schon mindestens acht Jahre her. Seitdem hat er keine Probleme mehr. „Ich denke, jetzt ist es besser geworden mit der Kriminalität“, sagt Jebari. Daran sei auch der neue Polizeiposten Schuld. Der Ladenchef begrüßt es, dass den ganzen Tag ein Polizeiauto gut sichtbar in der Eisenbahnstraße parkt. „Wenn etwas passiert, sind sie schneller da.“ Die Situation gänzlich verändern könne die Polizei ohnhin nicht, glaubt Jebari. Denn: „Kriminelle sind immer da.“
Gefühlt gibt es für ihn hier mitllerweile weniger zwielichtige Gestalten. „Früher haben hier viele Leute ohne Frau und Kinder gewohnt, jetzt sind mehr Familien dazugekommen“, sagt er. „Die machen weniger Probleme.“
Die Dealer wurden in den Osten verdrängt
Der Streifenwagen ist das Aushängeschild, gut sichtbar steht er in einer Parklücke in der Eisenbahnstraße, direkt vor dem neuen Polizeiposten, den es seit drei Jahren hier gibt. Drei so genannte Bürgerpolizisten sind hier stationiert, einer sitzt im Büro, zwei laufen Streife. Sie sollen mit Anwohnern und Händlern ins Gespräch kommen, Vertrauen schaffen.
„Wir haben uns nicht den Anspruch gestellt, damit die Eisenbahnstraße von Grund auf befrieden zu können“, sagt Polizeisprecher Andreas Loepki. „Es geht darum, ein subjektives Sicherheitsgefühl zu schaffen, den Bürgern eine Anlaufstelle zu bieten und Kräfte schneller vor Ort zu haben.“
Einbrüche, Raubüberfälle, Drogenhandel
Einbrüche, Raubüberfälle, Drogenhandel
Die Resonanz sei gut, so Loepki. Viele Anwohner begrüßten es, dass die Polizei nun mehr Präsenz zeigt, auch wenn der Posten in der Vergangenheit schon mehrfach angegriffen wurde. 2015 fackelten Linksextreme das Polizeiauto ab, immer wieder krachten Steine in die Scheibe des Büros. Betrunkene traten den Spiegel des Streifenwagens ab oder wälzten sich auf der Motorhaube. Trotzdem lautet Loepkis Bilanz nach drei Jahren: „Wir sind auf einem guten Weg.“ Seit 2015 ist die Außenstelle rund um die Uhr geöffnet, nachts rollt eine Autostreife durch den Kiez.
Andreas Loepki wurde schon oft gefragt, für wie gefährlich die Polizei die Gegend um die Eisenbahnstraße hält. Er stellt dann immer erstmal grundsätzlich klar: „Wir haben kein Maß, um eine Gefährlichkeit einer Straße zu bestimmen.“ Und ergänzt dann: „Von der gefährlichsten Straße Deutschlands zu sprechen, ist Humbug.“ Allerdings seien die Eisenbahnstraße und die angrenzenden Straßenzüge bis zum Torgauer Platz ein „kriminalgeografischer Schwerpunkt“, wie es im Polizei-Jargon heißt. Anders gesagt: „Es ist ein Bereich, in dem sich eine Unmenge an Kriminalität zuträgt.“ Ladendiebstahl, Einbrüche, Raubüberfälle und der Drogenhandel halten die Polizisten auf Trab.
Polizeisprecher Andreas Loepki gibt Tipps für das richtige Verhalten auf der Eisenbahnstraße.
Loepki gibt zu, dass die hohe Kriminalität in diesem Viertel auch hausgemacht ist. Nach der Wiedervereinigung wollten Stadt und Polizei eine offene Drogenszene rund um den Hauptbahnhof verhindern. Die Folge: Die Dealer wurden in den Osten verdrängt.
Der florierenden Drogenszene könne man hier kaum Herr werden, so der Polizeisprecher. „Es gibt in Leipzig eine unheimliche Nachfrage nach Betäubungsmitteln.“ Und: Die Beamten allein könnten die Ursachen der Drogenkriminalität nicht ändern. „Ein Suchtproblem werden Sie niemals durch eine Strafanzeige lösen.“ So prophezeit Loepki der Eisenbahnstraße keine rosige Zukunft. „Ich befürchte, dass sie den Status Quo beibehalten wird.“
„Bei uns haben alle Respekt voreinander“ Matthias Eichler trainert in seinem Kiezboxclub Deutsche und Migranten
Hock-Streck-Sprünge, Liegestütze, Sit-ups – die Erwärmung des gerade beginnenden Kinder- und Jugendboxtrainings bringt einige der Nachwuchssportler das erste Mal an diesem Abend an ihre körperlichen Grenzen. Der Großteil der Jugendlichen im Alter zwischen neun und 15 Jahren kommt aus direkter Nachbarschaft der Eisenbahnstraße zu Matthias Eichler – aber auch Jugendliche aus dem ganzen Stadtgebiet trainieren im BoxGym in Höhe des Torgauer Platzes.
„Wenn du die Hände fallen lässt, gehen die Lichter aus“
„Wenn du die Hände fallen lässt, gehen die Lichter aus“
Unmittelbar hinter der Eingangstür beginnt der Trainingsbereich. Kein Flur, kein Foyer, kein Empfang – der Sport steht im Vordergrund. „Klein aber gemütlich, willkommen im Kiezboxclub“, sagt der 47-Jährige zur Begrüßung. Er sitzt hinter einem einfachen Schreibtisch links neben der Eingangstür und leitet von dort die Erwärmungsübungen.
Vor den fünf Sandsäcken, die am Rand des Boxrings hängen, üben sich derweil elf Jugendliche mit Hanteln in ihren Händen im Schattenboxen. Dann steht Eichler auf, beobachtet die Bewegungen seiner Schützlinge genau. „Wenn du die Hände fallen lässt, gehen die Lichter aus“, ermahnt er einen Jungen im Manchester-Trikot, deren Arme sichtbar schwerer und schwerer werden.
Matthias Eichler will den Jugendlichen hier im Osten eine Perspektive geben, damit sie von „den Dingen, die auf der Eisenbahnstraße nun einmal passieren, wegkommen“ - oder am besten gar nicht hinein geraten. „Bei uns haben alle Respekt voreinander“, sagt der Box-Trainer. „Alle werden hier gleich behandelt.“
Eichler ist ein „Grünauer Kind“, wie er sagt. Mit dem Leipziger Osten habe er in seiner Jugend gar nichts zu tun gehabt. Erst als das Boxstudio in der Windmühlenstraße wegen der fehlenden Belüftung nicht mehr geeignet war, wechselte er an die Eisenbahnstraße. Hier sei die Mitgliederzahl dann noch einmal deutlich gestiegen.
Trainer Matthias Eichler über den Kontakt zwischen Deutschen und Ausländern in seinem Boxclub
Eichler ist ein schlagfertiger Typ, hat immer einen Spruch parat und „früher“ selbst „auf unterer Ebene“ geboxt - immerhin 2. Bundesliga in Gera. „Ich habe meine Berufung aber darin gefunden Leute zu trainieren und Veranstaltungen zu organisieren“, sagt er.
„Einige Kunden haben Angst“ Lutz Damm betreibt den letzten Farbenladen in der Eisenbahnstraße
Der scharfe Geruch nach Lack beißt in der Nase. „Manche fragen mich, wie es hier drin aushalte“, sagt Lutz Damm, Chef des Ladens „Farbenfreund“ in der Eisenbahnstraße. Es ist eines der letzten kleinen Farbengeschäfte in Leipzig, so der Inhaber. Viel bringt das Geschäft nicht ein, aber vielleicht führen Lutz und Ilona Damm ihren Laden auch ein bisschen aus Trotz weiter. Das „letzte Einhorn“ gibt eben nicht so schnell auf.
Die schönste Straße Leipzigs
Die schönste Straße Leipzigs
Drinnen findet sich ein buntes Sammelsurium an Farben, Lacken, Tapeten Eimern und Pinseln, das nur die langjährigen Inhaber durchblicken. Seit 1923 gibt es das Geschäft, seit 34 Jahren steht Lutz Damm nun schon hinterm Verkaufstresen, ein knurriger Typ im weißen Kittel, ein echtes Urgestein von 63 Jahren, ohne Frage eine Kultfigur des Viertels.
Melancholie schwingt in seiner Stimme mit, wenn er von früher erzählt, als die Eisenbahnstraße, wie er sagt, „die schönste Straße Leipzigs war“. Zu DDR-Zeiten gab es hier alles auf engstem Raum: zwei Kinos, eine Eisbar, zwei Fischläden, einen Schuhladen, einen Stoffladen, den Konsum. Nach der Wende machten viele der Geschäfte dicht, ausländische Inhaber übernahmen. Das Viertel wurde international.
2004 wurde die Straße saniert, das hieß Dreck und Lärm für die Händler. Heute sagt Lutz Damm: „Die Baustellenzeit haben wir gut überstanden.“ Zehn Prozent Umsatz-Einbußen, mehr sei es nicht gewesen. Damals aber hatten sie Panik, dass die Kunden wegbleiben würden – und gründeten deshalb eine Händlergemeinschaft, die so genannte Lo(c)kmeile. 20 Geschäfte waren damals Mitglied in dem Verein, heute sind es noch fünf, sechs. Auch die internationalen Händler luden sie ein, beizutreten, „aber die wollten nicht“, sagt Lutz Damm. Ein, zwei Mal schauten sie vorbei, dann blieben sie weg.
Bis heute habe er mit den internationalen Geschäftsleuten „wenig zu tun“. Damm macht der Stadt den Vorwurf, dass sie die Migranten in diesem Viertel hinter dem Bahnhof konzentriert hat. Die Verwaltung hätte weniger Händler mit ausländischem Hintergrund zulassen dürfen, in dem sie die Gewerbescheine begrenzt. Durch die Vielzahl der Nationalitäten komme es seit Jahren zu Konflikten, sagt Damm. Der Polizeiposten, den es seit drei Jahren hier gibt, sei „ein kleiner Schritt, aber zu wenig“, findet er. „Der kann doch nicht um fünf abhauen.“ Er fordert, dass die Polizisten am Abend Patrouille laufen sollten.
Der schlechte Ruf der Eisenbahnstraße schade seinem Geschäft, sagt der Farbenhändler. „Seitdem hier am hellichten Tag mal einer erschossen wurde, haben einige Kunden Angst“, erzählt seine Frau Ilona. Manche ließen sich per Taxi bis vor das Geschäft fahren, so die 62-Jährige. Das Ehepaar wurde schon öfter verwundert gefragt, warum sie ausgerechnet hier ihren Laden haben. Dabei findet Lutz Damm: „Der schlechte Ruf der Straße ist mehr als übertrieben.“ In anderen Städten sei es mit der Kriminalität zehn Mal schlimmer.
„Mit schlechten Leuten habe ich nichts zu tun“
Dunkle Mäntel, bunte Tücher, wallende weiße Hochzeitskleider – das Geschäft „Istanbul Moda“ platzt davon regelrecht aus allen Nähten. Mizgin Özdemir verkauft hier Mode für kopftuchtragende Frauen. Für viele unterschiedliche Nationalitäten und Kulturen sei etwas dabei, betont die Ladenchefin, die aus Istanbul stammt und vor drei Jahren mit ihren beiden Kindern nach Deutschland gekommen ist.
Seit einem Jahr führt die gelernte Schneiderin das Geschäft in der Eisenbahnstraße. An manchen Tagen kommen viele Kunden, an anderen Tagen betritt kaum jemand ihren Laden. Heute ist so ein ruhiger Tag. Nur ihre Bekannte Rojin Isik hat zufällig vorbeigeschaut – und übersetzt das Gespräch. Mizgin Özdemir spricht bisher nur wenig Deutsch, sie hat einen Sprachkurs besucht, aber in der Eisenbahnstraße kommt man mit Türkisch auch ganz gut durch den Alltag.
Die 37-Jährige mag ihr Viertel: „Für mich ist es hier gut“, sagt sie. Ihr gefalle die kulturelle Vielfalt, sie habe viele türkische und kurdische Freunde und eine deutsche Freundin, die auch Türkisch spricht. Als gefährlich empfindet sie die Gegend um die Eisenbahnstraße nicht. „Natürlich gibt es schlechte Leute, aber mit denen habe ich nichts zu tun.“
Ihre Freundin Rojin Isik meint: „Die Frauen werden aus den Konflikten heraus gehalten“. Die 22-Jährige Krankenschwester lebt seit 17 Jahren in Deutschland, und findet auch, dass der Ruf der Straße übertrieben negativ ist. „Das schlechte Image wird hochgeputscht.“ Dabei habe sich das Viertel in der Vergangenheit total verändert: „Heute wohnen hier auch viele Studenten. Dadurch ist die Straße viel schöner geworden.“ Und: „Man fühlt sich schon ein bisschen sicherer, wenn man abends die Studenten draußen sitzen sieht“, so Isik.
„Ich mag das Abgefuckte hier” Der Rapper Jahmica über seine Wahlheimat - die Eisenbahnstraße
In einer Seitenstraße der Eisenbahnstraße wohnt der Rapper Jahmica. Auf dem obersten Klingelschild steht David Trautmann, wie er bürgerlich heißt. Oberster Stock, die Wände kahl, die Couch abgesessen – Vintage-Chic. Trautmann lädt in die Wohnküche. Der offene Laptop und das Iphone liegen auf dem Küchentisch. Hier arbeitet der Rapper aktuell an seiner neuen Platte, entwirft Texte, fügt die Eindrücke zusammen, die er im Park, in der Straßenbahn, an der Uni gesammelt hat.
„Mir hat das Lebensgefühl hier am besten gefallen“, sagt David Trautmann. Daher sei er auch bewusst in den Leipziger Osten gezogen. Das war im Mai 2015, bis dahin wohnte er im Süden Leipzigs. Als Jahmica noch kein Rapper und kein Leipziger war, wohnte er in einem kleinen Ort in Thüringen. Dort begann er sich schon während der Kinder- und Teeniezeit für Musik zu interessieren. Hörte viel Funk, Soul und Techno. Das sei auch heute noch so. Natürlich inspiriere ihn das Leben auf der Eisenbahnstraße. „Der Ort, an dem ich wohne, was ich dort erlebe, repräsentiert auch immer einen Teil von mir“, sagt der Mittzwanziger.
Was er neben der Musik macht? „Studieren und überleben.“ Eine Haupteinnahmequelle gibt es nicht. Musik und verschiedene andere Sachen finanzieren das Leben des Rappers. Jahmica sagt, die Aufgabe eines Künstlers sei auch die aktuelle Stimmung einzufangen, sie mit den eigenen Eindrücken zu kombinieren und sie „ausgeglichener wiederzugeben“. Die Eisenbahnstraße sei so „die Koexistenz von vielen unterschiedlichen Perspektiven.“ Und persönlich? „Ich mag auf jeden Fall das Abgefuckte hier, was leider zusehends weniger wird“, so der Rapper.
„Man hat diesen Hotspot hier bewusst entstehen lassen.“
Henry Hufenreuter, 54, ist Vorsitzender des Bürgervereins Neustädter Markt und lebt seit 1994 an der Eisenbahnstraße - „eine der größten wirtschaftlichen Fehlentscheidungen seines Lebens“, wie er sagt. Zudem ist er Redaktionsleiter des Neustädter Markt Journals und Mitglied des Stadtbezirksbeirates Leipzig-Ost. Im Interview beleuchtet er die Stadtteilentwicklung der vergangenen 20 Jahre, spricht über persönliche Niederlagen und die Zukunft seines Kiezes.
Hufenreuter nimmt sich vor, nicht zu rauchen. Das Büro sei rauchfreie Zone.
Die Hermann-Liebmann-Straße damals und heute
Aus Fehlentscheidung wird Liebe zum Viertel
Herr Hufenreuter, Sie haben die Entwicklung der Eisenbahnstraße miterlebt und mitgestaltet. Wie empfinden Sie das Viertel heute im Gegensatz zu ihrem ersten Eindruck?
Henry Hufenreuter: (seufzt): Das ist gar nicht miteinander zu vergleichen. Dass ich hier hergekommen bin, war eine wirtschaftliche Fehlentscheidung. Ich habe 1994 das hinter uns liegende Gasthaus (Red.: die Gaststätte „Zur Tenne“ an der Schulze-Delitzsch-Straße 19) gebaut. Darüber sollte eine Wohnung entstehen. Um eventuellen Krach mit Mietern zu verhindern, bin ich dann selber hier eingezogen. Als ich wieder bei Verstand war, habe ich gemerkt, dass das die idiotischste Entscheidung meines Lebens war. Es gab durch den Leerstand praktisch keine zahlenden Kunden.
Die Heilig-Kreuz-Kirche damals und heute
Wie fanden Sie das Viertel vor?
In der Schulze-Delitzsch-Straße war die Hälfte der Häuser unbewohnbar. Das Gebiet hatte besonders gelitten. Als eines der wenigen Gründerzeitviertel wurde es Anfang der 1870er-Jahre erbaut, die letzten Häuser 1908 - für Arbeitskräfte, die billigen Wohnraum suchten. Die Bausubstanz war nicht für ein Denkmalschutz-Schildchen ausgelegt.
In den Kriegen ist nicht viel gemacht worden, in der DDR gleich gar nicht.
Anfang der 1980er-Jahre
hatte der Leipziger Rat beschlossen, die Wohnverhältnisse im Leipziger einen Flächenabrissplan entworfen. In der Neustadt sollten, ähnlich wie um den Volkmarsdorfer Markt herum, Plattenbauten entstehen. Wo jemand auszog, wurde nichts Instand gehalten. Ein Haus wurde zugemauert, wenn es leer stand. Es sollte ja sowieso unter die Abrissbirne.
Das Haus an der Konradstraße wurde 1909 als Markthalle erbaut.
Was passierte nach der Wende mit den leer stehenden Häusern?
„Nach der Wende waren hier viele Eigentumsverhältnisse ungeklärt, die Rekonstruktion der Häuser rechnete sich wirtschaftlich kaum. Damit ging der Verfall erstmal weiter. Es kam alles ganz langsam in Gang. Keiner wusste, wie man Stadtsanierung macht. Wir dachten, dass das viel schneller geht, alles sollte erblühen. Das lief sich nach einigen Jahren schon tot.
Der Osten hatte schon immer einen schlechten Ruf. Die Wohlbetuchten zog es nach 1990 nicht gerade hierher.
Stattdessen kamen die, die sich keinen anderen Wohnraum leisten konnten und die Ausländer. Das hat den Standort nicht attraktiver gemacht für die Normalbevölkerung. So wurde es erstmal eine endlose Abwärtsspirale. Zur schlimmsten Zeit hatte Neustadt-Neuschönefeld noch um die 6000 Einwohner. Jetzt gehen wir auf 14.000 Einwohner zu. Wir sind deutschlandweit eines der dichtbesiedeltsten Wohnviertel."
An Hermann-Liebmannstraße stand 1992 eine vorübergehende Filiale der Deutschen Bank.
Hufenreuter spricht langsam und bedächtig. Man merkt: Die Entwicklung der Eisenbahnstraße treibt ihn um.
Heute ist die Straße vor allem für ihre Kriminalität bekannt.
„Das ist einer der großen Hemmschuhe, die dem Viertel immer noch anhaften. Großen Teilen der Stadtverwaltung war es ganz recht, die Kriminalität in den dreckigen Osten abwandern zu lassen. Der Bahnhof musste gesäubert werden. Da wurde investiert. Das war das Schaufenster zu dieser Stadt. Man hat diesen Hotspot hier bewusst entstehen lassen. Das ist der Vorwurf, den ich den drei letzten Bürgermeistern mache.
Jetzt haben wir es mit verfestigten Kriminalitätsstrukturen auf der Eisenbahnstraße zu tun. Die Berichte, die ProSieben und Kabel 1 bringen, sind furchtbar dramatisiert, aber nicht aus der Luft gezogen. Das fällt hier alles nicht zufällig vor. Wir haben hier den Humus, auf dem das gedeiht.“
Das Kino Wintergarten wurde 1997 abgerissen.
Jetzt wird darüber geredet, die Eisenbahnstraße zur Waffenverbotszone zu machen. Sinnvoll?
„Ja, das ist alles schön. Nur Entschuldigung: Wir leben doch nicht in Dodge City. Es ist ohnehin verboten mit der Waffe durch die Stadt zu ziehen und rumzuballern. Es ist viel Verzweiflung im Spiel. Nun heißt es aus dem Rathaus: Der Osten ist jung und kreativ. Schaut, wie toll wir das gemacht haben. Aber das hat sich so ergeben: Weil alles verrottet war, weil alles runtergekommen war, weil die Mieten billig waren.“
Hufenreuter macht sich jetzt doch eine Zigarette an. Und setzt damit das Rauchverbot außer Kraft.
Heute ziehen Studenten, Künstler und Familien ins Viertel. Hat die Gentrifizierung die Eisenbahnstraße erreicht?
„Wir
haben im Verein ein Ehepaar, dessen Wohnung gekündigt wurde. Sie finden
keine mehr, die sie finanzieren können, obwohl beide berufstätig sind.
Und das hat natürlich etwas mit den Studenten zu tun, die hergezogen
sind. Der Markt bestimmt den Preis.
Ich wüsste nicht, was die
Stadt Leipzig machen soll. Sie hat hier kein Eigentum, das sind
Privateigentümer, die lange Durststrecken hinter sich haben, was
Mieteinnahmen angeht. Da sind zum Teil der dritte Konkurs, die dritte
Zwangsversteigerung auf dem Haus. Denen will ich es auch nicht
übelnehmen, dass sie jetzt die Zeit nutzen, um Rendite einzufahren. Es
besteht nicht die Gefahr, das teuerste Wohnviertel von Leipzig zu
werden. Aber wir sind im letzten Jahr bei den Mieten ins erste Drittel
vorgestoßen.“
„Wir konnten das irgendwann nicht mehr stemmen“ Der Leipziger Tafel wurde ständig die Miete erhöht, jetzt hat sich der Verein eine neue Ausgabestelle gesucht
Die letzten Leitungen werden verlegt, Anschlüsse und Steckdosen gesetzt – noch ist die neue Ausgabestelle der Leipziger Tafel eine Baustelle. Bennigsenstraße 14 lautet schon bald die neue Adresse für Bedürftige im Osten, die hier gegen zwei Euro eine Tüte voller Lebensmittel bekommen.
Es sei von Tag zu Tag ein Fortschritt zu sehen, sagt der Bauherr beim Rundgang durch die noch unverputzten Wände. Werner Wehmer, promovierter Wirtschaftswissenschaftler und Immobilienmakler, ist seit über 11 Jahren Vorstandsvorsitzender der Leipziger Tafel. Im Osten versorgt der Verein täglich im Schnitt 250 Menschen, vorwiegend Alleinerziehende mit Kindern und Rentner – hauptsächlich Deutsche.
Seine grauen Haare kämmt der 70-Jährige streng nach hinten, die Stirnglatze liegt dann frei. Über dem grauen Schnauzer sitzt eine Brille mit abgedunkelten Gläsern. Als er für ein Foto noch einmal lächeln soll, fragt er erschrocken: „Ich habe gelächelt?“ Wehmer guckt lieber ernst. Der Neubau der Ausgabestelle sei notwendig geworden, weil die bisherige Station an der Eisenbahnstraße 149 zu wenig Platz bot und – die Miete ständig stieg. Auch die Tafel ist von der Gentrifizierung des Kiezes nicht ausgenommen.
Der Tafel-Verein kaufte das 290 Quadratmeter große Grundstück an der Bennigsenstraße von einer privaten Garagengemeinschaft, entrümpelte es und setzte einen zweigeschossigen Neubau darauf – mit großen Fenstern und hellen Räumen. Geschätzte Kosten samt Ausstattung: 410.000 Euro. Am 24. April wurde der Grundstein gelegt. Als der Neubau noch keine Türen und Fenster hatte, fand Wehmer Spritzbestecke und Fäkalien in den Räumen.
„Wir mussten das Gebäude dann ganz schnell dicht bekommen. Das glaubst du nicht, sobald ein Dach drüber ist, wird es von bestimmten Gruppen genutzt.“ Wenn Wehmer “Du” sagt, meint er “Ich”. Eröffnet werden soll die neue Stelle noch in diesem Jahr. Im Erdgeschoss geben die Ehrenamtlichen dann täglich die Lebensmittel aus, im Obergeschoss wird das Mittagessen verteilt. Das Haus soll Platz für Kinder-Kochkurse, Seniorenbegegnungen, Geburtstags- und Weihnachtsfeiern für Kinder bieten.
Tafel-Chef Werner Wehmer über die Rolle der Tafel im Problembezirk Eisenbahnstraße
Das Grundstück, auf dem der Neubau errichtet wird, sei seit dem Erwerb
das 10-fache Wert, sagt Wehmer. Vor etwas mehr als zwei Jahren hatte es
der Verein für 50.000 Euro gekauft. Das zeige, dass das Viertel rund um
die Eisenbahnstraße als Wohnort immer beliebter wird. Wehmer sagt: „Die
Lage entwickelt sich.“ Allerdings: Seit feststeht, dass die Tafel hier
eine neue Ausgabestelle errichtet, sei das brach liegende Grundstück
daneben wertlos geworden. Neben der Tafel zu wohnen, daran sei kaum
jemand interessiert.
Quellen: Statistisches Landesamt Sachsen, Bürgerverein Neustadt-Neuschönefeld, Kriminalitätsatlas des Landeskriminalamtes Leipzig 2016, Statistisches Jahrbuch der Stadt Leipzig
Texte und Video-Interviews: Mathias Schönknecht, Gina Apitz
Fotos und Videodreh: Dirk Knofe
Schnitt: Leipzig Fernsehen
Trailer Patrick Moye
Idee:
Mathias Schönknecht
Produktion:
Gina Apitz
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