Die Galvanotechnik Sellerhausen Leipzigs verlassene Orte im Wandel
Halb verrottet und mit Pflanzen bewachsen oder im Umbau – viele ehemalige Industrieanlagen in Leipzig sind dem Verfall preisgegeben, in anderen zieht neues Leben ein. In einer sechsteiligen Serie begeben wir uns auf einen Streifzug durch die letzten „Lost Places“ der Stadt, zeigen aber auch, was man aus den alten Gebäuden so alles machen kann. Diesmal haben wir uns in der Galvanotechnik in Sellerhausen umgesehen.
Die Galvanotechnik liegt in Sellerhausen, im Osten Leipzigs.
Was ist galvanisieren?
Bei der Galvanisierung wird ein Werkstück mithilfe der Elektrolyse mit einem Metall überzogen. Dafür wird das Metall in einer Flüssigkeit gelöst und lagert sich dann entweder am Pluspol, der Anode, oder dem Minuspols, der Kathode, ab. Auf diese Weise wird der zu veredelnde Gegenstand gleichmäßig zum Beispiel mit Kupfer beschichtet.
Der chemische Prozess wird bei Computerchips, Münzen oder Schrauben angewandt, ist Grundlage für Autoteile, Uhren, Reifen oder für den Siebdruck. „Keine Schallplatte, keine CD ohne Galvanotechnik“, sagt Ulrich Vieweger, ehemaliger Mitarbeiter der Leipziger Galvanotechnik-Fabrik.
Das alte Werk
Das alte Werk
Der Eingang ist unscheinbar. Eine graue Pforte an der Torgauer Straße, daneben ein schlichtes weißes Gebäude, das das Leipziger Museum für Galvanotechnik beherbergt. Dahinter aber erstrecken sich viele leer stehende Werkshallen, dort beginnt eine andere Welt. 1500 Menschen arbeiteten mal in der Galvanotechnikfabrik in Sellerhausen im Osten Leipzigs. Eine von ihnen ist Marion Regal, eine kleine Frau, die mit leiser Stimme sachlich von früher erzählt. „Es war eben eine andere Zeit“, sagt sie knapp. Die 65-Jährige ist seit Kurzem in Rente, engagiert sich schon länger im Verein für Galvanotechnik, der das Museum betreibt. Sie kennt sich aus auf dem Fabrikgelände, erlebte den zunehmenden Verfall der Produktionshallen und die neue Nutzung anderer Gebäude.
1979 fängt die studierte Chemikerin in der Verfahrensentwicklung des Unternehmens an, ist später im Bereich „Internationale Zusammenarbeit“ tätig. Sie zeigt den noch zugänglichen Teil des Geländes. Ein großer Bereich gehört einem privaten Investor und darf nicht betreten werden. Marion Regal läuft vorbei am ehemaligen Heizwerk, dessen Schornstein noch steht, vorbei an den Hallen, in denen die chemische Produktion stattfand. „Dort wurden die Salze für die Elektrolyten hergestellt.“ Sie deutet auf dieses und jenes Gebäude und erklärt: Berufsschule, Buchhaltung, Fuhrpark.
6.30 Uhr fing sie damals morgens mit der Arbeit an, meistens ging es bis 16 oder 17 Uhr. Mittags aßen viele Beschäftigte in der Kantine, „ein großer, schöner Saal“, der inzwischen abgerissen wurde.
Begleitet wird Marion Regal heute von Ulrich Vieweger, 75 Jahre alt, einer der beiden Vorsitzenden des Galvanotechnik-Vereins und ebenfalls ehemaliger Mitarbeiter. Der ältere Herr mit den weißen Haaren hat 1958 hier den Beruf des Galvaniseurs gelernt. Nach seiner Armeezeit kehrte er zurück nach Leipzig, arbeitete ab 1965 im Labor als Entwicklungsingenieur.
Das ehemalige Büro
Vieweger greift zum Telefon und ruft den Chef einer Chemiefirma an, die einen Teil des Areals nutzt. Michael Stoffers, Geschäftsführer der Vopelius Chemie-AG, hat einige der Gebäude 1992 gekauft, stellt hier Chemikalien her. Ein weiteres Haus, das in den 1930er-Jahren gebaut wurde, kam vor drei Jahren dazu. Es wird gerade saniert und bisher als Lager genutzt.
Es ist der Ort, an dem Marion Regal früher ihren Arbeitsplatz hatte. 25 Jahre lang hat sie die alten Flure nicht betreten. Wie fühlt sich das an, nach so langer Zeit wieder in dem Gebäude zu sein? „Ein komisches Gefühl“, sagt die Chemikerin. „Es ist schon interessant, hier zu sein, aber es sind jetzt auch so viele Jahre vergangen.“ Heute habe sie ein neues Leben. Es gebe zwar Erinnerungen an damals, doch sie trauere der Zeit nicht nach.
Damals wie heute steigt Regal die Treppenstufen nach oben zu ihrem alten Büro. Den Paternoster, den es früher hier gab, mochte sie nicht. Auf der Etage waren das Fotolabor, die Dokumentation und die Projektierung untergebracht. Sie kann nicht mehr ganz genau sagen, wo sie damals saß. Der Raum wurde bereits entkernt, die Zwischenwände herausgerissen. Geschäftsführer Stoffers will hier irgendwann Büros einbauen.
Marion Regal hat jetzt doch noch die Stelle gefunden, an der früher ihr Schreibtisch stand. Die Zeit in der Fabrik, sagt sie, bleibe ihr positiv im Gedächtnis. Das Arbeitsklima sei gut gewesen. „Es war ein Zusammengehörigkeitsgefühl da.“ Allerdings: Die Technik sei mit der von heute nicht mehr zu vergleichen.
Die Zeichnerinnen brachten die Anlagen, die gebaut werden sollten, per Hand aufs Papier. „Das war viel aufwendiger als heute“, sagt die ehemalige Angestellte. Die Frauen arbeiteten in der obersten Etage: Dort war die Konstruktion und Pauserei angesiedelt.
25 Jahre später: Das Dach war zum Teil eingefallen, sagt Michael Stoffers. „Da hinten wuchsen schon Farne.“ Das Parkett wölbte sich durch die Feuchtigkeit nach oben. Der Geschäftsführer hat
das Dach erneuern lassen, zeigt jetzt noch den ehemaligen Luftschutzraum, der dicke Betonwände hat. Von den beiden Gefängniszellen, die es früher hier ebenfalls gab, ist heute nichts mehr zu sehen.
Das Treppenhaus eines der Gebäude der Galvanotechnik vor der Sanierung 2006 und danach 2015.
Das Ende der Fabrik
Das Ende der Fabrik
Auch Ulrich Vieweger verbindet mit der alten Fabrik viele Erinnerungen, erzählt, dass die Mitarbeiter in den Räumen im Winter oft gefroren haben. Immer dann, wenn die Kohle für das Heizhaus an den Waggons, in denen sie kam, festgefroren war. Beheizt wurden dann zuerst die Produktionshallen. Am stärksten hat sich bei ihm die Schließung des Werks Anfang der neunziger Jahre eingeprägt. „Es ist soviel Zeit vergangen, dass es nicht mehr weh tut, aber es hat weh getan“, sagt er. „Wir hatten kaum Zeit, darüber nachzudenken, wir hatten so viele Probleme.“
Mit der Wiedervereinigung brach das wichtigste Exportland über Nacht weg: die damalige Sowjetunion. Das Leipziger Werk belieferte zwar unter anderem Schweden und Japan, aber 80 Prozent der Anlagen und Chemikalien wurden in die Sowjetrepubliken geliefert. „Während der Galvanotechnik-Betrieb in der DDR quasi ein Monopol hatte, gab es in der BRD vielleicht 20 Firmen wie unsere, und die waren über Nacht alle da“, erinnert sich Vieweger. Die westdeutschen Firmen kamen mit moderneren Anlagen und besseren Chemikalien. Von der Konstruktion her, sagt er, sei man nicht auf einem anderen Level gewesen als die Firmen im Westen, aber beim Material konnte der Ostbetrieb nicht mithalten. „Wir mussten viel improvisieren.“
1990 wurde aus dem VEB eine GmbH und Vieweger zu einem von fünf Geschäftsführern ernannt. „Ich hatte ein bisschen Glück“, sagt er heute. Der Nachteil: Er musste die Kündigungen mit umsetzen. „1500 Leute mussten wir entlassen, das ging bis zu Morddrohungen“, berichtet er. Viele Mitarbeiter hatten mit ihrem Schicksal zu kämpfen, verkrafteten den Rauswurf anfangs nicht. Versuche, das Unternehmen mit Hilfe westdeutscher und ausländischer Firmen am Leben zu erhalten, scheiterten. 1992 wurde die Galvanotechnik abgewickelt. Vieweger eröffnete eine kleine Vertriebsfirma, in der er noch 15 Jahre bis zur Rente arbeitete. Als Pensionär ist er noch immer im Galvanotechnik-Verein aktiv. „Ich bin so ein Verrückter, der immer noch hier rumrennt.“
Marion Regal kann sich an ihren letzten Tag noch gut erinnern. Als besonders schlimm habe sie ihn nicht empfunden. „Man hat einen Abschiedssekt getrunken mit den Kollegen. Am nächsten Tag ging dann was Neues los“, erinnert sie sich. „Einen Abschiedsschmerz hat es so nicht gegeben.“ Regal trauerte nicht um ihren alten Job, sie bildete sich weiter, arbeitete erst im Marketingbereich, später bis zur Rente in der Oberflächentechnik. Den Kontakt zum Verein, zu einigen alten Kollegen, hat sie gehalten – bis heute.
Die Geschichte der Galvanotechnikfabrik
Die Geschichte der Galvanotechnikfabrik
1881 Fabrik gründet Georg Langbein am Bayerischen Bahnhof in Leipzig eine Fachfirma für Galvanotechnik. Es ist die erste dieser Art in Deutschland. „Die Wiege der Galvanotechnik ist hier in Leipzig“, sagt die Leipziger Chemikerin Marion Regal. Vorher habe es in Deutschland zwar schon Galvaniken gegeben, aber kein Unternehmen, das diese Betriebe mit Anlagen und Chemikalien ausrüstet.
1890 erweitert Langbein den wachsenden Betrieb und baut ein neues Werk in Sellerhausen. Die Branche ist zu dieser Zeit im Aufwind. „Hier war früher grüne Wiese, hier stand ’ne Windmühle“, sagt Ulrich Vieweger, ehemaliger Mitarbeiter des Galvanotechnik-Betriebs. Mitten auf diese Wiese setzt der Unternehmer neue Fabrikgebäude, von denen der größte Teil heute noch steht.
Für die Arbeiter richtet Langbein einen Prämien-Fonds ein. Ist der Chef mit der Tätigkeit seiner Angestellten zufrieden, erhalten sie nach fünf Jahren 100 Mark und werden als „Fabrik-Jubilar“ beglückwünscht.
1907 schließt sich das Unternehmen mit der Wiener Firma von Wilhelm Pfanhauser zu einer Aktiengesellschaft zusammen. Die Belegschaft besteht damals aus 250 Menschen. Neue Apparate werden entwickelt, viel Geld in die Forschung gesteckt.
Die Bedeutung des Betriebs
In diesem Schreiben wird auf die herausragende Bedeutung des Unternehmens während des Ersten Weltkriegs beschrieben.
So wurde in der Fabrik früher gearbeitet
Auszug aus einem Werk- und
Werbefilm von 1925
Der Verein für Galvanotechnik
Der Verein für Galvanotechnik hat aktuell 49 Mitglieder, 29 Firmen und 20 Privatpersonen, darunter einige frühere Mitarbeiter des Werks. Der Verein betreibt in Sellerhausen unmittelbar neben den alten Produktionshallen ein Museum, das auf Anfrage besichtigt werden kann.
Hier geht es zur Internetseite des Vereins.
Texte und Videointerviews: Gina Apitz
Videodreh: Dirk Knofe
Fotos: Dirk Knofe, Birk Poßecker, Burkhard Henkel, Ulrich Vieweger
Drohnenaufnahmen:
Birk Poßecker
Schnitt: Leipzig Fernsehen
Konzept, Produktion: Gina Apitz
Quellen Verein deutsches Museum für Galvanotechnik Leipziger Geschichtsverein Sächsisches Wirtschaftsarchiv
Weitere Multimedia-Reportagen
Weitere "Lost Places"
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Das Industriekraftwerk
Hier geht es in das ehemalige Industriekraftwerk in Kleinzschocher.
Dietzolds Fabrik
Hier geht zum Dietzold-Werk in Leutzsch, das heute Atelierhaus ist.
Maschinenfabrik Swiderski
Hier geht es mit dem Fotografen Birk Poßecker in die Fabrik von Philipp Swiderski.
Die alte Sternburg-Brauerei
Hier geht es zur alten Sternburg-Brauerei in Lützschena.
LVZ Reportage
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