Vierteilige Serie Aus Plattenbau wird Multi-Kulti So hat sich Grünau seit den 80ern entwickelt
Zu DDR-Zeiten waren Wohnungen in Grünau begehrt, nach der Wende machten Bagger die Hochhäuser platt. Heute ziehen wieder mehr Menschen in den Stadtteil im Leipziger Westen. Doch das Viertel kämpft noch immer mit Arbeitslosigkeit und Kriminalität. Für die vierteilige Serie haben wir uns vor Ort umgesehen. Wie blicken die Menschen auf ihren Kiez? Welche Probleme hat Grünau im Moment? Und wie wird es sich in Zukunft entwickeln?
Teil 2 dreht sich um die Veränderung von Grünau bis heute.
Diese Reportage wird präsentiert von Matchball
„Leipzig liegt mir zu Füßen“
„Leipzig liegt mir zu Füßen“
Eine regennasse Dunstwolke hängt über Grünau, hüllt die Plattenbauten in neblige Schleier. Bei Sonnenschein hat Harald Kirschner von hier oben, aus 60 Metern Höhe, eine tolle Sicht über den Stadtteil. „Leipzig liegt mir zu Füßen“, sagt der Fotograf, der in der 16. Etage eines Grünauer Punkthochhauses wohnt, direkt neben dem Freibad „Grünauer Welle“.
1981 zog er mit seiner Familie, das zweite Kind war gerade unterwegs, von der Leipziger Südvorstadt hierher. Der Künstlerverband, in dem das Paar organisiert war, teilte ihnen die Atelierwohnung zu. Kirschners Frau arbeitete ebenfalls als freischaffende Grafikerin. „Man hat uns regelrecht angefleht: 'Nehmt die Wohnung'“, erinnert sich der 73-Jährige.
130 Quadratmeter, verteilt über zwei Etagen, plus Dachgarten – „das war wunderbar“, sagt Kirschner, der zu dieser Zeit begann, seine neue Umgebung auf Fotos festzuhalten. Entstanden sind Aufnahmen einer „unfertigen Stadt“, Eindrücke vom Leben auf der Baustelle. Seine Bilder zeigen Menschen, die durch den Schlamm waten, Kinder, die auf einer Kabeltrommel herumturnen, Schlangen vor den ersten Grünauer Supermärkten.
„Es war für mich spannender Stoff, diese Gegensätzlichkeiten, die sich da plötzlich auftaten“, sagt der Fotograf. Kirschner lehrte zu DDR-Zeiten an der Leipziger Hochschule für Grafik und Buchkunst. Offiziell durften die Baustellen nicht fotografiert werden, aber das kümmerte niemanden, sagt er. 20 seiner Grünau-Bilder wurden in den 1980ern in einer Galerie im Leibnizclub in der Elsterstraße gezeigt.
Blick aus dem Fenster des 16-Geschossers - in den 1980ern und heute
Fragt man Kirschner nach dem Leben in Grünau zu DDR-Zeiten, sagt er: „Es war nicht so anonym wie heute.“ Seine Hausgemeinschaft organisierte Arbeitseinsätze, Kinderfeste und eine hölzerne Wäschemangel, er spielte mit den Nachbarn Tischtennis. „Zu DDR-Zeiten hatten die Mieter, was die Belange des Hauses betraf, mehr zu sagen, als jetzt“, findet er. Auch gab es vier Mal so viele Hausmeister.
DDR-Kunst an der Alten Salzstraße in Grünau damals und heute
Die dritte Chance
Während des Sturms „Friederike“ im Januar hat sein 16-Geschosser gewankt. Einige Scheiben im Treppenhaus gingen zu Bruch und wurden tagelang nicht repariert, beklagt Harald Kirschner.
Er spielte schon mit dem Gedanken, Grünau zu verlassen.
Aber dann dachte er, dass sein Blick aus dem Fenster wohl nie wieder so
spektakulär sein würde. Der Fotograf glaubt an eine positive Zukunft des
Stadtteils. „Nach DDR und Wendezeit, bekommt Grünau jetzt eine dritte
Chance sich zu entwickeln“, ist er sicher.
„Ich bin vorsichtiger geworden“
Ein Mann diskutiert mit dem Verkäufer an der Fleischtheke, eine ältere Frau begutachtet die Äpfel am Obstregal, vor der Kasse stehen die Kunden Schlange. Es ist einiges los im Lebensmittelladen von Hussein al Meklef in Grünau-Mitte.
Größere Nachfrage nach internationalen Waren
Größere Nachfrage nach internationalen Waren
Anfang der Neunziger eröffnete der gebürtige Syrer hier einen Gemüseladen, 2016 erweiterte er das Geschäft und das Sortiment. Seither kann man bei dem 58-Jährigen Lebensmittel aus der ganzen Welt kaufen – ein kleiner Orient-Supermarkt mitten zwischen den Hochhäusern. „Wir haben uns vergrößert, weil die Nachfrage nach internationalen Waren gestiegen ist“, sagt al Meklef, ein ruhiger Mann mit Schnauzer, der viel lacht.
1984 kam der damals 24-Jährige aus al-Mayadin in Ost-Syrien nach Leipzig. Er studierte Landwirtschaft, wollte ursprünglich wieder in seine Heimat zurückkehren. Doch dann lernte er eine Deutsche kennen, heiratete. Inzwischen ist das Paar geschieden, aber al Meklef ist noch immer Ladenchef und beschäftigt inzwischen sechs Mitarbeiter. Viele seiner Kunden kommen aus dem arabischen Raum, aus Afghanistan, Indien oder Pakistan – und aus Grünau.
„Momentan fühle ich mich nicht sicher“
„Momentan fühle ich mich nicht sicher“
Egal, ob Ausländer oder Deutsche – al Meklef kommt mit allen ins Gespräch. Obwohl er selbst keine Probleme hat, kennt er die Konflikte des Stadtteils, die Vorurteile vieler Alteingesessener. Dabei müsse man differenzieren, sagt er. „Es gibt hier viele nette Nachbarn, die Deutschen werfen aber leider alle in einen Topf“, klagt er. Das Hauptproblem sei die Sprache. „Wenn sie nicht miteinander reden können, haben sie kein Gefühl füreinander, sie verstehen sich gegenseitig nicht“, sagt der gebürtige Syrer, der selbst gut Deutsch spricht. Die Migranten sollten sich bemühen, die Sprache zu erlernen. Dann können sie ihre Nachbarn auf einen Kaffee einladen. „Ich glaube, dann würden sich viele Probleme beseitigen lassen.“
Erst Anfang Februar wurde in seinen Laden eingebrochen. Die Täter stahlen einen Laptop und Wechselgeld, die Überwachungskamera filmte sie dabei. Es war nicht das erste Mal. „Ich bin vorsichtiger geworden“, sagt al Meklef. Manchmal habe er Angst, wenn er die Tagesumsätze abends nach Hause fährt. „Momentan fühle ich mich nicht sicher.“ Al Meklef gefällt es nicht, wie sich manche, vor allem junge Migranten, auf der Straße verhalten. Sie seien zu laut, würden denken, dass hier keine Regeln gelten. „Man muss die jugendlichen Cliquen abends von der Straße holen“, fordert er. „Es darf keinen Platz für sie geben.“ Al Meklef ist überzeugt: „Die Polizei schafft das.“
„Manchmal haben wir zu viel Verständnis gezeigt“
Wenn Mieter sich streiten, die Räumung droht oder sich der Umzug in eine altersgerechte Wohnung nicht mehr abwenden lässt, dann ist er gefragt: Gilbert Then arbeitet als Sozialmanager bei der Leipziger Wohnungsgenossenschaft Transport (Wogetra), der in Grünau 2000 Wohnungen gehören. „Ich würde es lieber Sozialdienst nennen“, sagt der 54-Jährige. Zuhören, Verständnis aufbringen, Probleme lösen – das ist seine Aufgabe.
„Die Leute ins Gespräch bringen“
„Die Leute ins Gespräch bringen“
Normalweise besucht Then die Mieter zu Hause, bei Streitigkeiten redet er mit beiden Seiten. „In 80 Prozent der Fälle regelt sich das danach.“ Selten seien Mediationsgespräche nötig, im schlimmsten Fall muss eine der Parteien ausziehen. Gegen Bewohner, die über Jahre keine Miete zahlten, sei man in der Vergangenheit oft nicht rigoros genug vorgegangen, sagt Then. „Manchmal haben wir zu viel Verständnis gezeigt.“ Einige Bewohner nutzten das aus, wachten erst kurz vor der Räumung auf. Das Problem mit Mietschuldnern sei rückläufig, hat Then bemerkt.
Seit zehn Jahren kümmert er sich um die Anliegen seiner Grünauer Mieter, von denen viele Rentner sind. „Einige haben die Baugruben der Häuser selbst mit ausgehoben“, sagt er. Sie identifizierten sich stark mit der Genossenschaft. Viele der älteren Mieter seien vereinsamt. „Die brauchen manchmal nur jemanden, der ihnen zuhört“, weiß der Sozialmanager. Gemeinsam mit der Arbeiterwohlfahrt lädt die Wogetra zum Seniorentreff, organisiert Ausfahrten. Es ist seine Aufgabe, die Nachbarschaft zu stärken, die „Leute ins Gespräch zu bringen“, wie er sagt. Die Wogetra bezuschusst zum Beispiel Hausfeste, die die Bewohner selbst auf die Beine stellen.
Nach der Wende standen auch viele Blöcke der Genossenschaft leer und wurden abgerissen. In die verbliebenen Wohnungen zogen häufig sozial schwache Familien ein. Nach der Jahrtausendwende lag der Leerstand bei 20 Prozent, schätzt Then. Vor fünf Jahren veränderte sich der Markt. Es zogen wieder mehr Menschen nach Grünau, die Plattenbauten füllten sich. Heute stehen bei der Wogetra etwa zehn Prozent aller Wohnungen im Viertel leer. Die Kaltmieten seien mit durchschnittlich 4,50 Euro im stadtweiten Vergleich noch immer günstig.
Ein anderer Lebensrhythmus
Ein anderer Lebensrhythmus
Familien aus Syrien und Eritrea wohnen jetzt in Grünau
Billige Mieten ziehen seit einigen Jahren auch viele Flüchtlinge nach Grünau. „Es sind eine ganze Reihe eingezogen“, so Then. Die Wogetra versucht, die Menschen zu verteilen. „Ansonsten würden wir unsere gewachsenen Hausgemeinschaften überfordern.“ Teilweise vermietete die Genossenschaft Wohnungen, die seit 15 Jahren leer standen, berichtet der Sozialmanager. In vielen Häusern nahmen die Mieter die ausländischen Bewohner skeptisch auf. „Da war es nötig von unserer Seite moderierend unterwegs zu sein“, sagt Then und meint damit, sich die Befürchtungen der Alteingesessenen anzuhören und zu vermitteln.
Auch die Flüchtlinge, viele aus Syrien oder Eritrea, wurden beim Einzug begleitet. Then organisierte Dolmetscher, damit sie den Mietvertrag verstehen, er ließ die Hausordnung und die Regeln zur Mülltrennung ins Arabische übersetzen. „Der Lebensrhythmus ist kulturell anders“, sagt er. Die ausländischen Familien gingen nicht um 22 Uhr ins Bett, auch die Kinder nicht. An dem Lärm störten sich einige Nachbarn. Gilbert Then nennt es „Anpassungsschwierigkeiten“ und lädt alle Mieter regelmäßig zum Nachbarschaftstreff ein. Es sind vor allem die Deutschen, die das Angebot annehmen.
Gilbert Then würde sich wünschen, dass Grünau in Zukunft wieder gefragter ist. Die Wogetra sanierte zuletzt 200 Wohnungen in der Offenburger Straße. „Seniorenfreundliches, höherwertiges Wohnen, praktisch ein Neubau“, sagt er. Die Nachfrage sei gut, fast alle Wohnungen sind inzwischen vermietet. „Dadurch kommen neue Menschen ins Viertel, die sich sonst nicht unbedingt für Grünau entschieden hätten.“
„Die Grünauer wohnen gern hier“
„Die Grünauer wohnen gern hier“
Schlammpisten, Bagger und halb fertige Blöcke: Petra May weiß noch genau, wie Grünau früher aussah. Die 68-Jährige zog mit ihrer Familie 1981 in den Wohnkomplex 7 der Neubausiedlung, die damals noch einer Baustelle glich. „Alle waren glücklich, dass es neue Wohnungen gab“, sagt May, die heute Vorsitzende des 14-köpfigen Grünauer Bürgervereins ist. Ein echtes Urgestein, das die Hochs und Tiefs des Stadtteils miterlebt hat.
Wohnungen mit Fernheizung, warmem Wasser, Innentoilette und Balkon waren für viele damals eine deutliche Verbesserung. Anfang der 1980er wurden in Grünau nicht nur Wohnblöcke gebaut, sondern auch Kitas und Schulen. „Das war sehr familienfreundlich gedacht“, sagt May, die sich noch daran erinnert, wie sie ihren fünfjährigen Sohn früher durch die schlammigen Wege in die Kita brachte. Danach ging es per Bus und Bahn zur Arbeit in der Bauakademie in der Leipziger Innenstadt. In den ersten Jahren fuhr die Straßenbahn noch nicht bis in das neue Wohngebiet, sie musste in einen Bus umsteigen, der oft überfüllt war, erzählt sie.
Als die Abrissbirne kam
Als die Abrissbirne kam
Nach der Wende begann der Verfall des einst so beliebten Viertels. Die Menschen zogen weg aus Grünau, viele Blöcke kamen unter die Abrissbirne. Der Bürgerverein – 1990 als Bürgerkomitee gegründet – versuchte mitzureden, kritisierte vor allem den Abriss von Hochhäusern mit Aufzug. Rückblickend muss May allerdings feststellen: „Der Verein hatte nicht den Einfluss, etwas grundsätzlich zu verändern.“
Doch zumindest im Kleinen versuchen die Mitglieder bis heute ihren Stadtteil mitzugestalten. Sie setzen sich für eine gute Infrastruktur ein, für die Aufwertung der tristen Innenhöfe, für Schulen und Bibliotheken. Der Neubau des geplanten Bildungszentrums in Grünau dürfte sich allerdings noch hinziehen. Kritik übt die Bürgervereinschefin am schlechten Zustand der Schulen, die in der Vergangenheit „stiefmütterlich“ behandelt wurden („sollten alle auf Vordermann gebracht werden“) und an der Zahl der Freizeitangebote für Kinder. „Da muss die Stadt noch sehr viel tun“, findet sie.
Zumal neue Probleme dazukommen, etwa die Integration der Flüchtlinge, von denen seit 2015 viele nach Grünau gezogen sind. „Das Straßenbild hat sich verändert“, hat Petra May festgestellt. Wer heute durch Grünau schlendert, sieht kopftuchtragende Frauen, hört fremde Sprachen. Das war vor einigen Jahren noch nicht der Fall. „Gerade hier im Stadtteil wird viel für die Integration getan“, lobt sie und nennt als Beispiele das Mütterzentrum und die Angebote der Caritas.
Ein lebenswerter Stadtteil
Petra May wohnt heute noch in der gleichen Straße wie damals, in einem Sechs-Geschosser. Zwischenzeitlich überlegte sie, ins Umland zu ziehen. Aber dann ist sie doch geblieben. Schließlich sei Grünau ein lebenswerter Stadtteil: die Nähe zum Kulkwitzer See, die gute Anbindung an die Innenstadt, die vielen Grünflächen.
Für May steht fest: „Die Grünauer wohnen gern hier.“ Sie ist sicher, dass der Zuzug in den Stadtteil anhalten wird. Die letzten Wohnblöcke werden derzeit saniert, Aufzüge montiert und neue Häuser erbaut. May würde sich wünschen, dass weitere Wohnformen dazukommen. Warum nicht Stadtvillen auf die freien Flächen setzen? „Eine vorstellbare Variante, um die Bevölkerung zu durchmischen“, schlägt sie vor.
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Texte und Videointerviews: Gina Apitz
Fotos und Videodreh: Dirk Knofe, Armin Kühne, André Kempner
Historische Fotos Grünau: Harald Kirschner,
LVZ-Archiv/ Krabbes, LVZ-Archiv/ Naumann
Schnitt: Felix Ammenn (Leipzig Fernsehen)
Animation: Patrick Moye
Konzept und Produktion: Gina Apitz