Mein Viertel Das Bülowviertel: Gründerzeit im Leipziger Osten
Auf Streifzug durch den Kiez: In der Serie „Mein Viertel“ führen Leipziger durch ihren Stadtteil, zeigen Lieblingsplätze und Schandflecken. In Teil 13 spaziert Quartiersmanagerin Paula Hofmann durch das Bülowviertel.
Paula Hofmann steht auf dem breiten Fußweg, wo sich Eisenbahn- und Bülowstraße kreuzen, und winkt. Die Quartiersmanagerin und zweifache Mutter hat zwei Stunden Zeit, dann muss ihre Tochter ins Bett gebracht werden.
Vor zehn Jahren zog die 32-Jährige in den Leipziger Osten, einen Kiez, der ihr damals „charmant“ erschien, vor allem „nicht so durchgestylt“. Gemeinsam mit 14 Freunden suchten sie ein Haus, in das alle einziehen konnten. Das einzig Bezahlbare fanden sie im Bülowviertel. Gemeinsam sanierten sie das alte Gebäude, wohnen hier heute „zu unschlagbaren Konditionen“.
580 Euro warm für 82 Quadratmeter
580 Euro warm für 82 Quadratmeter
Auf dem Spaziergang trifft Hofmann zuerst Heidi Altmann, die noch einige Jahre länger im Viertel lebt als sie. Die gebürtige Thüringerin lädt in den Altbau, den sie mit ihrem Mann seit 22 Jahren bewohnt: 580 Euro warm für 82 Quadratmeter. Auf ihrem Balkon blühen die Geranien.
Viele Jahre betrieb das Ehepaar ein Geschäft für Innendekoration auf der Eisenbahnstraße. Zuletzt mussten beide den Laden aufgeben, weil es immer schlechter lief. Heidi Altmann sagt: „Früher hab ich gern hier gewohnt, jetzt nicht mehr.“ Die 76-Jährige stört „der Dreck und der Krach“. Seit fünf, sechs Jahren sei es immer schlimmer geworden mit dem Müll.
Doch umziehen wolle sie in ihrem Alter nicht mehr. Altmann pflegt ihren 89-jährigen Mann, der erkrankt ist. Vor einiger Zeit verkaufte der Besitzer das Gebäude an eine Investmentfirma, sagt sie. Bisher gebe es keine konkreten Sanierungspläne. „Wir haben trotzdem Angst, dass wir irgendwann raus müssen“, so die Rentnerin.
„Es geht los“
„Es geht los“
Tante-Emma-Laden musste schließen
Wie viele Ecken der Stadt hat sich auch das Bülowviertel in den vergangenen Jahren rasant gewandelt. Als sie 2008 hierher zogen, „haben hier nicht viele Leute gewohnt“, sagt Paula Hofmann. Noch Ende 2012 wollte allein die Leipziger Wohnungsbaugesellschaft (LWB) 27 leer stehende Häuser verkaufen. Früher standen hier nur eine Hand voll Autos in den Straßen, heute haben es die Anwohner zum Teil schwer, einen Parkplatz zu finden, erzählt die Leipzigerin, während sie die Wohnung von Heidi Altmann verlässt.
Unten auf der Straße mischt sich ein Nachbar ins Gespräch ein, der seit acht Jahren im Bülowviertel wohnt. Das Wort „Gentrifizierung“ fällt. „Als hier vorne die erste Latte-macchiato-Bar aufgetaucht ist, war klar, dass es losgeht“, schimpft er. Die Mieten hätten sich teilweise verfünffacht, zehn Euro Kaltmiete pro Quadratmeter seien längst nicht mehr unüblich.
Paula Hofmann trauert besonders um den Tante-Emma-Laden des Viertels in der Eisenbahnstraße, bei dem sie samstags oft frische Brötchen holte. Seit 1995 betrieb Familie Ton den kleinen Laden, wohnte selbst im Nachbarhaus. Als beide Häuser saniert wurden, mussten fast alle Mieter ausziehen; Tons mussten ihr Geschäft aufgeben. Das Ehepaar kannte jeden im Viertel. „Den älteren Bewohnern schleppten sie sogar die Getränke in die Wohnung“, sagt Hofmann. Es ärgert sie, dass ein Treffpunkt des Quartiers einfach verschwindet. „Frau Ton hatte noch vier Jahre bis zur Rente.“
Auch der Tafel-Verein verlor seine Ausgabestelle, baut sich derzeit aber ein neues Domizil in der Benningsenstraße. „Problematisch wird es, wenn Läden zu Wohnungen umgewidmet werden“, findet die Quartiersmanagerin. „Dann wird man hier bald keinen Einzelhandel mehr haben.“
Dafür hat im Bülowviertel soeben die erste Shisha-Bar eröffnet. In der einstigen Gaststätte „Sachsenburg“ lud der Quartiersladen drei Jahre lang zu Skatabenden und Hausaufgabenhilfe ein. Doch der Treff wurde schlecht angenommen. Inzwischen ist hier die Kneipe „Pabloesco Bar“ eingezogen.
Ein Spielplatz für die Jüngsten
Ein Spielplatz für die Jüngsten
Doch es gibt noch Freiräume im Bülowviertel. Hofmann deutet auf eines der wenigen Häuser, die noch leer stehen, zeigt den Spielplatz, den die Bewohner auf einer Brachfläche in Eigenregie aufgebaut haben. Am ersten Septemberwochenende fand im Viertel das Straßenmusikfestival statt, das der Förderverein Bülowgärten jedes Jahr organisiert. Hofmann ist eines von 30 Mitgliedern, die das Viertel beleben und mitgestalten wollen. Doch viele Bewohner bringen sich ohnehin ein, sagt sie. Das liegt schon daran, dass viele ihre Häuser gemeinsam gekauft oder gemietet haben. So ein Projekt verbindet. „Es ist eine kleine Idylle“, findet Hofmann.
Fünf Parteien im eigenen Haus
Fünf Parteien im eigenen Haus
Steffen Zander (36) und Juliane Bank (35) leben mit ihren beiden Kindern in so einer Hausgruppe. 2012 kauften sie mit Freunden für 100.000 Euro ein Haus im Viertel, das 17 Jahre lang leer stand, und setzten es Stück für Stück in Stand. Sie rissen Mauern ein, verputzten Wände, verlegten Stromleitungen. „Das, was wir konnten, haben wir selber gemacht“, sagt Juliane Bank, die als Controllerin arbeitet.
Nach drei Jahren Bauphase zog die Familie in die 145-Quadratmeter große Wohnung ein. Einmal im Monat besprechen die fünf Parteien nun Belange, die das Haus betreffen. „Manchmal treffen wir uns auch einfach so zum Grillen“, sagt Bank.
Ein Quartier in Bewegung
Ein Quartier in Bewegung
Wer einen Raum für eine Familienfeier sucht, muss dagegen bei Eberhard Werner anklopfen. Der 73-Jährige Hausbesitzer baute eine alte Werkstatt zu einem Partyraum um, den das ganze Viertel nutzen kann. Stolz zeigt der Rentner, was er aus den verfallenen Gebäuden gemacht hat.
Der Elektriker wuchs im Bülowviertel auf. 1912 eröffnete sein Großvater in der Gretschelstraße eine Bäckerei. Hinten die Mehlkammer, vorn der Laden. Zu DDR-Zeiten verfielen die Häuser im Viertel zunehmend. Werner erinnert sich an bröckelnden Putz und zerstörte Fensterscheiben. Doch das änderte sich zum Glück nach der Wende. Der Rentner ist froh, dass die Fassaden heute in neuem Glanz erstrahlen.
Mehr Mülleimer, mehr Fahrradständer
Mehr Mülleimer, mehr Fahrradständer
In dem kleinen Quartier treffen die Menschen unweigerlich oft aufeinander. „Vladi“, ruft Paula Hofmann plötzlich einer junger Mutter entgegen, die ihre einjährige Tochter Stella im Kinderwagen durch die Straße schiebt. „Wir fühlen uns hier wohl, weil die Nachbarschaft so gemischt ist“, sagt Vladi Nadova, eine gebürtige Bulgarin. Nur eines ist ihr aufgefallen: „In Bulgarien gibt es mehr Spielplätze für Kinder.“ Auch ein paar mehr Mülleimer und Fahrradständer wären toll, sagt Nadova.
Paula Hofmann fehlen vor allem ein Bäcker und eine Drogerie, seit der Schlecker vor Jahren dicht machte. Supermärkte, Ärzte, Schulen und Kitas gebe es dagegen genug, so die 32-Jährige. Meckern kann sie ansonsten nur über die vielen Hundehaufen. „Ich laufe eigentlich gern barfuß.“
Auf ihrem Spaziergang durch das Bülowviertel passiert Hofmann jetzt das ehemalige Lichtspielhaus „Kino der Jugend“, dem der Verein IG Fortuna neues Leben einhauchen will. Direkt gegenüber hat Olga Ortleb vor sechs Jahren ihre Nähstube eröffnet. Die Maßschneiderei laufe, die Mundpropaganda tut ihr Übriges, auch ihre Nähkurse kommen gut an. „Ich merke, dass sich viele junge Frauen fürs Nähen interessieren“, sagt die 48-Jährige.
Die Schneiderin kennt fast jeden im Viertel, hält mit den Nachbarn gern einen Plausch. Dann entschuldigt sie sich, sie muss sich um einen Kunden kümmern, der eine Hose abholt.
Text und
Video-Interviews: Gina Apitz
Fotos und Videodreh: Dirk Knofe, Ronny Püschel, André Kempner
Zoom, Logo: Patrick Moye
Schnitt: Leipzig Fernsehen
Konzept und Produktion: Gina Apitz
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