Die Bleichert-Werke in Gohlis Leipzigs verlassene Orte im Wandel
Halb verrottet oder im Umbau – viele ehemalige Industrieanlagen in Leipzig sind dem Verfall preisgegeben, in anderen zieht neues Leben ein. In einer sechsteiligen Serie begeben wir uns auf einen Streifzug durch die letzten „Lost Places“ der Stadt, zeigen aber auch, was man aus den alten Gebäuden so alles machen kann. Hier stellen wir die Bleichert-Werke in Gohlis vor, aus denen nach und nach Wohnungen werden.
Die Bleichert-Werke stehen in Leipzig-Gohlis.
Das Werk aus der Luft
Die Bleichert-Werke
Der Drohnenflug zeigt die alte Fabrik aus einer besonderen Perspektive
Die Baustelle
Die Baustelle
Die Gummistiefel sind keine schlechte Idee. Mit ihnen stapft Jessica Birgel zügig – und vor allem trockenen Fußes – durch eine regelrechte Schlammwüste. Die ehemaligen Bleichert-Werke in Gohlis sind derzeit eine große Baustelle mit matschigem Untergrund. Seit 2008 saniert der Berliner Immobilienprojektentwickler CG Gruppe die historischen Werkshallen der ehemaligen Drahtseilbahnfabrik. Auf dem 2,5 Hektar großen Areal sollen 145 Wohnungen entstehen, dazu 20 Einfamilienhäuser. 62 Millionen Euro hat das Unternehmen investiert.
Projektleiterin Birgel gibt heute einen Einblick in die Baumaßnahmen, zeigt den aktuellen Stand der Arbeiten auf dem Gelände, auf dem einiges in Bewegung ist. Baggerfahrer düsen über den schlammigen Untergrund, es wird gebohrt, gehämmert, geschraubt. Die Betriebswirtin ruft in den Krach hinein, bittet um fünf Minuten Ruhe.
Die 29-Jährige steht jetzt im Herzen des Geländes, in der Fertigungshalle 2, der größten der alten Fabrik. „Hier ist der Clou, dass wir einen Neubau in die Mauern des Altbaus setzen“, erklärt sie. 58 Wohnungen werden auf 5000 Quadratmetern entstehen. Die Betonteile dafür gießen die Arbeiter vor Ort. Die Decke des Gebäudes wird später geöffnet, um Licht hineinzulassen.
In der 15 Meter hohen Halle sieht man oben noch die alte Kranbahn. Sie wird erhalten bleiben und nur etwas nach vorn verschoben. „Dadurch können die Anwohner und Besucher die Historie des Objektes noch mal sehen“, sagt Birgel und lächelt.
Die Vision
Die Vision
Auch die Stahlträger bleiben bestehen, werden zum Teil in den Wohnungen
sichtbar sein. Die alten Werkslampen würde die Projektleiterin gern
wieder in die Treppenhäuser schrauben. „Wir versuchen hier so viel wie
möglich an Bestand in die sanierten Wohnungen einzubringen.“ Selbst die
alten Hausnummern werden gesichert und später wieder an den
Häuserfassaden befestigt.
Birgel läuft weiter zum Haus 3, das sich derzeit im Rohbau befindet. Eine Decke muss noch herausgebrochen werden, damit hier fünf Lichthöfe entstehen. Einige sollen als kleiner Garten zu einer bestimmten Wohnung gehören, andere sind für alle Bewohner frei begehbar. An der Fassade wird noch gewerkelt. Jung und Alt sollen zusammen ab Ende des Jahres hier einziehen – Studenten, Berufstätige und Familien. Dass hier schon in wenigen Monaten Menschen wohnen sollen, ist angesichts des regen Treibens auf der Baustelle schwer zu glauben. Doch Birgel bleibt optimistisch: „Der Innenausbau ist immer relativ schnell durchgezogen.“
Die Kantine
Die Kantine
Die Projektchefin stapft weiter durch den braunen Modder. Es hat angefangen zu regnen. Das gesamte Fabrikgelände steht unter Denkmalschutz, erklärt sie. Nur drei Gebäude dürfen abgerissen und neu gebaut werden. Die restlichen sieben Häuser werden denkmalgerecht saniert. Birgel geht jetzt über eine herunter getretene Tür in ein Haus, das bald dem Erdboden gleich gemacht wird.
Es ist die alte Mensa mit Küche. Den Saal in der oberen Etage kann man noch als solchen erkennen. Hier wurden die Arbeiter damals verköstigt, hielten sie ein Pausenschwätzchen. Fensterscheiben und Türen sind zerstört, Pflanzen haben das Areal erobert. Doch die CG Gruppe hat bereits mit den Aufräumarbeiten begonnen. Birgel steht jetzt auf einer Fläche, die sie „Birkenwäldchen“ getauft hat. „Sie war komplett zugewachsen.“ Die Bäume sind schon auf dem Müll und bald auch das Haus, auf dem sie einst wuchsen.
Immer mal wieder zieht es Neugierige in die alte Fabrik, die noch nicht wissen, dass dieser „Lost Place“ schon in der Umnutzung ist. Einmal hätten Leute eine Parkbank auf eines der Dächer geschleppt, erzählt Birgel, „und oben bei Sonnenuntergang schön ein Bierchen getrunken“. Doch ungebetene Gäste werden inzwischen schnell bemerkt, das Areal wird mit Kameras überwacht. „Wir sind verpflichtet, das Gelände zu sichern. Wenn hier irgendjemandem etwas passiert, wären wir direkt haftbar.“
Die Bleichert-Werke als Ruine
So sahen die Bleichert-Werke im April 2012 aus - vor fünf Jahren noch ein echter "Lost Place".
Der Brand
2013 brannte eine Halle der Bleichert-Werke.
Eine Dachfläche von etwa 100 Quadratmetern stürzte ein, darunter liegende Gebäudeteile wurden stark beschädigt. Die Polizei vermutet, dass es sich um Brandstiftung handelte. Es war nicht das erste Mal, das auf dem Areal gezündelt wurde.
Das alte Bürogebäude
Das alte Bürogebäude
Das nächste Haus, das auf dem Gelände bezugsfertig wird, ist das einstige Bürogebäude mit der Nummer 12. Hier ist man mitten im Innenausbau, acht Wohnungen sollen auf 1000 Quadratmetern entstehen. Schon in wenigen Wochen können wohl die ersten Mieter einziehen. Wer will, kann sein Auto bald in das neu errichtete Parkhaus stellen; die 271 Stellplätze müssen extra angemietet werden. In den Neubau sollen zudem Geschäfte einziehen und eine Kita für 80 Kinder. „Das Gebäude dient auch als Schallschutz“, sagt Birgel und deutet auf die Bahnlinie, die unmittelbar neben dem Areal verläuft.
Direkt neben Haus 12 ragt das höchste Gebäude der ehemaligen Fabrik in den Himmel. Haus 13 ist mit seinen 20 Metern und dem Türmchen das eindrucksvollste Gebäude der Bleichert-Werke. Dieses Hochhaus, den sogenannten Königsbau,
und ein weiteres Gebäude hat die CG Gruppe an die GRK-Holding verkauft, die es im Stil der Nachbarhäuser sanieren und dort 80 Wohnungen bauen will. 9,5 Millionen Euro sollen in beiden Objekten investiert werden.
Schließlich soll am Ende alles zusammenpassen, ein eigenes Viertel mit gleicher Optik entstehen.
Jessica Birgel ist ausschließlich mit der Sanierung solcher geschichtsträchtiger Orte betraut. Für ihre Firma seien die Bleichert-Werke ein Projekt mittlerer Größe, sagt sie. Dafür aber eines, das viele Herausforderungen mit sich bringe. „Es gab kein Wasser, keinen Strom, keinen Telefonanschluss“, zählt sie auf. Das Gelände musste von Grund auf erschlossen werden.
Hinzu kamen Altlasten. „Das gesamte Gelände war früher bebaut mit Fertigungshallen, kleinen Werkstätten, Lager- und Transporthallen.“ Bei Bodenuntersuchungen entdeckte man in einigen Häusern Verschmutzungen, die entsorgt werden mussten. In einer anderen Halle stieß man auf einen Boden, der nicht tragfähig genug für den Neubau war und abgetragen werden musste. „Doppelter Aufwand“, konstatiert Birgel. „Das sind einfach Überraschungen, die so nicht vorhersehbar sind.“
Die neuen Wohnungen
Die neuen Wohnungen
Das Haus 4 an der
Wilhelm-Sammet-Straße
solllte schon Anfang 2016 fertig werden. Doch erst im Dezember vergangenen Jahres konnten die ersten Bewohner einziehen. Birgel führt jetzt durch eine Vierraumwohnung mit Fußbodenheizung, Echtholzparkett und bodengleichen Duschen. Alle Wohnungen haben einen Balkon. Letzteres sei in Leipzig Standard. „Ohne Balkon brauchen Sie das gar nicht anzubieten.“
Neben einer Gas-Grundversorgung kommen Luft- und Wasser-Wärmepumpen zum Einsatz.
Den Großteil der Wohnungen hat die CG Gruppe bereits verkauft – für durchschnittlich 3300 Euro pro Quadratmeter. „Das ist für Leipzig inzwischen günstig“, betont Jessica Birgel. Die Anfrage sei massiv. 80 Prozent der 21 Wohnungen des Hauses sind bereits vermietet, nur fünf bis zehn Prozent seien Eigennutzer. Die Preise für die Kaltmieten liegen zwischen 8,50 bis 9,50 Euro – trotz des Baustellenlärms.
Die Geschichte der Bleichert-Werke
Die Geschichte der Bleichert-Werke
Der Gründer Adolf Bleichert: Erfinder und Kaufmann
Adolf Bleichert wird am 31. Mai 1845 in Dessau geboren. In den 1860er-Jahren studiert er an der Gewerbeakademie Berlin, einem Vorläufer der Technischen Universität.
1872 konstruiert Bleichert die erste Drahtbahn für die Solaröl- und Paraffinfabrik Teutschenthal bei Halle. 1874 gründet er eine eigene Ingenieursfirma.
1873 heiratet er Hildegard Oelschig, die Tochter eines Landwirts, die beiden bekommen vier Söhne und eine Tochter, zwei weitere Kinder sterben in jungen Jahren.
Im Frühjahr 1900 erkrankt Bleichert an Tuberkulose, fährt seitdem mehrfach zur Kur ins schweizerische Davos, allerdings ohne Aussicht auf Genesung.
Am 29. Juli 1901 stirbt der Firmenchef.
Die Geschichte der Fabrik
1974 gründet Adolf Bleichert mit Theodor Otto aus Schkeuditz ein gemeinsames Ingenieurbüro „Bleichert und Otto“, das noch im selben Jahr nach Leipzig umzieht.
Schon zwei Jahre später trennen die beiden Geschäftsmänner ihre Unternehmen wieder, Bleichert führt die eigene Firma, mit der er Drahtseilbahnen produziert, unter neuem Namen weiter.
Wie funktioniert eine Drahtseilbahn?
In einem Geschäftsbericht der damaligen Zeit heißt es:
„Bei den Drahtseilbahnen mit kontinuierlichem Betrieb sind zwei in einer Entfernung von etwa 1,5 bis drei Meter nebeneinander liegende Tragseile vorhanden, von denen das eine für den Hintransport der beladenen Wagen, das andere für den Rückgang der leeren Wagen dient.“
Die 1000. Drahtseilbahn
Die 1000. Drahtseilbahn
1881 verlegt Bleichert die gesamte Firma nach Gohlis, es werden neue Fabrikräume eingeweiht, die 100. Drahtseilbahn wird gefertigt. Zu dieser Zeit arbeiten 20 Angestellte und 70 Arbeiter in dem Unternehmen.
1896 meldet Bleicherts Schwager Karl Streitzig, der ebenfalls in der Führungsetage der Firma arbeitet, ein wichtiges Patent an: die „Automat-Klemm-Kupplung“. Sie gilt als Wendepunkt in der Drahtseilbahngeschichte.
1897 wird das Werk vergrößert, neue Verwaltungsgebäude werden errichtet, die Belegschaft wächst auf 200 Arbeiter.
1899 feiert die Firma ihr 25. Jubiläum, die 1000. Drahtseilbahn wird fertig gestellt.
Der Brief
Kurz vor seinem Tod schreibt Adolf Bleichert einen Brief an seinen Schwager Karl Streitzig, der mit der Leitung des Werks betraut ist, und ihm neue Ideen vorschlägt. Das Schreiben zeigt deutlich, dass Bleichert Risiken scheute, zugleich aber von seinen Mitarbeitern Flexibilität verlangte.
Nach Bleicherts Tod 1901 werden alle Vorschläge von Karl Streitzig umgesetzt, die Fabrik vergrößert und in zwei Abteilungen getrennt. 1906 kommt auch der von Bleichert abgelehnte Direktanschluss an die Reichsbahn.
Bleicherts Rekordbahnen
Bleicherts Rekordbahnen
Die längste und höchste Drahtseilbahn fährt damals in Chilecito – La Mejicana in Argentinien. Erbaut wird die 34 Kilometer lange Bahn 1903 im Auftrag der argentinischen Regierung. Sie besteht aus acht Teilstrecken, fährt bis zur Bergstation auf 4603 Metern Höhe und überwindet dabei einen Höhenunterschied von 3500 Metern. Mit der Bahn werden damals Kupfer- und Silbererz aus den Minen in die Ebene zum Bahnanschluss transportiert.
Die steilste Drahtseilbahn, die so genannte Usambara-Bahn, produziert das Werk 1906 für die Kolonie Deutsch-Ostafrika, das heutige Tansania. 1910 wird sie dort von der Firma Wilkins und Wiese in Betrieb genommen und auf einer Länge von neun Kilometern zum Transport von Edelholzstämmen verwendet.
Die Blütezeit
Die Blütezeit
Nach dem Tod des Firmengründers Adolf Bleichert führen zwei seiner Söhne den Betrieb weiter. Die Jahre bis zum Ersten Weltkrieg entwickeln sich zur Blütezeit der Firma. Das Werk wird zum Großbetrieb und zu einer weltbekannten Drahtseilbahnfirma. Neue Produkte kommen hinzu: 1902 Elektrohängebahnen, 1905 Seil- und Kettenförderer, 1907 Bagger, 1908 Transportbänder.
Während des Ersten Weltkriegs stellt Bleichert Feld- und Einseilbahnen zum Einsatz hinter der Front her – für den Transport von Munition, Verpflegung und Verwundeten. 1919 bis 1922 werden neue Produktionshallen in Eutritzsch gebaut, da rings um das Gelände in Gohlis überall schon Wohnhäuser stehen und das Werk hier nicht expandieren kann. In dieser Zeit wird Bleicherts Firma für den Bau von Personenseil-Schwebebahnen immer bedeutsamer.
1930/31 gerät das Unternehmen durch die Weltwirtschaftskrise in die Insolvenz, 1932 wird eine Nachfolgefirma gegründet.
Während des Zweiten Weltkriegs produziert Bleichert Kriegsmaterial, das Werk wird bombardiert und dabei schwer beschädigt.
Ein volkseigener Betrieb
Ein volkseigener Betrieb
In der DDR wird es zu einem volkseigenen Betrieb gemacht, ab 1955 heißt es offiziell „VEB Schwermaschinenbau Verlade- und Transportanlagen Leipzig“. Im Volksmund bürgert sich die Abkürzung „VTA“ ein.
Das Unternehmen entwickelt sich zu einem wichtigen Großbetrieb des Schwermaschinenbaus, produziert werden Kräne, Schaufler und Gabelstapler.
1990 wird aus dem VEB eine GmbH. Die Belegschaft versucht mit Demonstrationen und Besetzungen die drohende Schließung des Werks abzuwenden, allerdings ohne Erfolg. Die Produktion wird schließlich eingestellt, die Firma über die Treuhand abgewickelt.
Die Werkshallen verfallen, bis die CG Gruppe das Areal 2008 kauft und mit der Sanierung der Fabrik beginnt.
Texte und Videointerviews: Gina Apitz
Videodreh: Dirk Knofe
Fotos: Dirk Knofe, CG Gruppe
Drohnenaufnahmen:
Birk Poßecker
Schnitt: Leipzig Fernsehen
Konzept, Produktion: Gina Apitz
Quellen: Pro Leipzig
Sächsisches Staatsarchiv Sächsisches Wirtschaftsarchiv
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